Rosenmunds Tod
sanktioniert. Es kam vor, dass sie, wenn sie zu laut im Garten des elterlichen Hauses herumgetobt hatte, mit einer Woche Hausarrest bestraft wurde. Und die Situation eskalierte, als sie in die Schule kam.«
»Hört sich nicht nach einer glücklichen Kindheit an«, bemerkte Annika, als Beeck eine kurze Pause machte, um ihnen Kaffee einzuschenken.
»Nein«, fuhr der Arzt fort. »Schon in der ersten Klasse wurde sie einem enormen Leistungsdruck ausgesetzt. Svenja musste überall die Beste sein, ein Diktat mit mehr als null Fehlern war aus Sicht ihres Vaters indiskutabel. Außerdem wurde sie außerhalb der Schule hart gefordert, Klavierunterricht, Reitstunden, Ballett.«
»Svenjas Mutter hat uns schon so einige Andeutungen gemacht«, nickte Gassel und probierte den Kaffee. Er schmeckte zur Abwechslung ausgezeichnet.
»Ich habe mehrmals mit Svenjas Eltern gesprochen«, erklärte Beeck. »Ihre Mutter hat versucht, einen gewissen Ausgleich zum Vater zu bilden, aber damit hat sie alles nur noch schlimmer gemacht.«
»Wie das?«, wunderte sich Gassel.
»Svenja hat irgendwann völlig die Orientierung verloren. Einerseits der strenge, übermächtige Vater, der bedingungslosen Gehorsam verlangte, andererseits die liberale Mutter, bei der sie über die Stränge schlagen durfte. Hierdurch waren weitere Konflikte vorprogrammiert.«
»Aber wie kam es zu den. selbstdestruktiven Neigungen?«
»Haben Sie eigene Kinder?«, antwortete Beeck mit einer Gegenfrage.
Beide Beamten schüttelten die Köpfe.
»Nun, Sie werden dennoch wissen, dass für ein Kind körperliche Zuwendung extrem wichtig ist, Zärtlichkeiten, in den Arm genommen werden, trösten und und und. Svenja kannte das kaum, und ausschließlich von ihrer Mutter. Ihr Vater reduzierte körperliche Kontakte auf das absolut Unvermeidbare. Sie muss das Empfinden gehabt haben, sich selbst nicht zu spüren, oder sie hat ihren Körper als etwas Störendes, Abstoßendes erlebt, ganz haben wir diesen Punkt nie klären können. Entweder hat sie sich selbst bestraft oder sie hat sich verletzt, um überhaupt etwas zu spüren.«
»Das ist ja furchtbar«, meinte Annika. »Der Vater hätte doch ebenfalls in Therapie gehört.«
»Ich habe es ihm vorgeschlagen«, nickte Beeck. »Die Reaktion war mehr als heftig.«
»Wie hat Svenja sich verletzt?«
»Mit Verbrennungen oder sie hat sich auf der Treppe bewusst einige Stufen herunterfallen lassen.«
Gassel sah seine Notizen durch. »Im Obduktionsbericht stand nichts von alten Verletzungen.«
»Kinder und Betrunkene haben einen Schutzengel, so heißt es doch. Die Verletzungen waren zum Glück nie schwerwiegend.«
»Herr Doktor Beeck, wurde Svenja von ihrem Vater auch sexuell missbraucht?«
»Nein«, antwortete Beeck sofort.
»Absolut sicher?«
»Absolut. Während ihrer Zeit in der Klinik haben die Kollegen selbstverständlich auch diesen Aspekt in Betracht gezogen, aber es gab nicht den geringsten Hinweis. Svenja hat auch von sich aus nie die kleinste Andeutung gemacht, auch nicht auf direktes Befragen.«
»Gab es anderweitige Äußerungen, die darauf hindeuteten, dass sie missbraucht wurde?«
»Nein. Warum fragen Sie?«
»Weil das zweifelsfrei feststeht: Svenja ist missbraucht worden«, erklärte Gassel mit trockenem Mund. »Nicht nur einmal, sondern über einen längeren Zeitraum.«
»Wie kommen Sie darauf?«, fragte Beeck völlig überrascht.
»Uns liegen Foto- und Videoaufnahmen vor, auf denen der Missbrauch festgehalten wurde. Ist Ihnen nie etwas in dieser Hinsicht aufgefallen?«
»Auf Ehre und Gewissen nicht«, murmelte Beeck konsterniert. »Selbstverständlich habe ich sie zu Beginn der Therapie auch auf diesen Punkt angesprochen. Zugegeben, alle Themen, die nur ansatzweise mit Sexualität zu tun hatten, wurden von ihr in der letzten Zeit blockiert, aber das ist in ihrem Alter nichts Ungewöhnliches. Sie stand immerhin mitten in der Pubertät.«
»An dem Missbrauch besteht kein Zweifel«, wiederholte Gassel. »Ist das bei Svenjas Krankheitsbild denn so undenkbar?«
»Leider nicht«, seufzte Beeck und schüttelte erneut den Kopf. »Jemand mit etwas psychologischem Wissen hätte sie natürlich manipulieren können. Svenja war eine Einzelgängerin; sobald sich jemand ernsthaft mit ihr beschäftigte, war sie Feuer und Flamme für diese Person. Und, was sie natürlich auch für derartige Verbrechen angreifbar machte, sie hat nie gelernt, Widerworte zu geben.«
»Psychologische Vorkenntnisse waren wohl nicht unbedingt
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