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Rosenpsychosen

Rosenpsychosen

Titel: Rosenpsychosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna-Maria Prinz
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flirrende Hitze nahm sie eine dünne Gestalt auf hohen Absätzen wahr, die vor ihrem Haus rauchend auf und ab ging.
    Auf der Straße raucht man nicht, dachte Marie. Man darf auf der Straße nicht rauchen, das ist unanständig. Schon gar nicht geht man dabei auf und ab. Wie das aussieht. Sie wollte die Zigarette loswerden, traute sich aber nicht, sie auf die Straße zu werfen. So etwas taten nur Prolos. Andererseits bestätigten Ausnahmen die Regel. Unumstößliche Wahrheiten gab es nicht, und wenn, dann waren sie langweilig. So in etwa hatte das irgendwer zu irgendwem im ›Stechlin‹ gesagt, wer genau und warum, das wusste sie nicht mehr. Ein guter Satz allemal, der es ihr erlauben sollte, die Zigarette einfach auf die Straße zu werfen. Dann allerdings müsste sie sie auch austreten, was angesichts ihrer dünnen roten Ledersohlen ausgeschlossen war. Schuhe, mit denen man Zigaretten austrat, besaß sie gar nicht. Nicht mehr lange, dachte sie, dann habe ich nur noch Zigarettenaustretschuhe.
    Marie versteckte die glühende Zigarette in ihrer Hand und ging zwanzig Schritte hinüber zur Kirche. Die Frau am Devotionalienstand im Vorraum des im Übrigen menschenleeren Gebäudes sah nur kurz auf, nickte und widmete sich wiederihrer Kasse. Es war ein Leichtes, die Kippe im Weihwasser verschwinden zu lassen. Nachdem sie eine Kerze angezündet hatte, die sie nicht bezahlt hatte, trat Marie zufrieden auf die Straße. Unumstößliche Wahrheiten gab es eben nicht.
    Sie setzte ihre Sonnenbrille auf und sah auf das rote Haus ihrer Psychotherapeutin.
    »Guten Tag«, sagte eine angenehme, bekannte Stimme neben ihr, deren Ruhe ihr einen Heidenschreck einjagte. Aus Helenes Korb staken einige Porreestangen, Möhren, Sonnenblumen.
    Als Marie den Korb, das braune Kleid und die flachen Schuhe sah, gab der blutrote Lippenstift ihre blanken Zähne frei. Sie lachte laut auf. »Sagen Sie mal, müssen Sie eigentlich jedes Klischee erfüllen?«
    »Nein«, entgegnete Helene, den Korbarm wechselnd, »muss ich nicht. Ich muss mich nur selbst erfüllen. Das tue ich so gut wie möglich, indem ich mich selbst erfühle. Sich selbst erfühlen, wissen Sie, was das ist? Und Sie? Müssen Sie jedes Klischee erfüllen?«
    Marie wurde todernst, lachte aber. Sie sah nach unten auf ihre Schuhe, dann auf den Porree, in die Sonne, auf das Kirchenportal und fummelte an ihrer Kette herum. »Klischees geben Sicherheit. Sind Sie denn sicher? Sie müssen sehr sicher sein, wenn Sie ein braunes Kleid und solche Schuhe tragen. Sie schminken sich nicht, tragen Ihre naturgrauen Haare, Ihre Beine sind unrasiert. Wie kommen Sie zu dieser Sicherheit?«
    Helene holte tief Luft und stellte den Korb neben sich ab. »Ich sagte es bereits: Ich versuche, mich zu erfühlen. Hundertprozentige Sicherheit gibt es nie. Zu wissen, was man fühlt, gibt aber einige Sicherheit. Nehmen Sie Ihre Kette ab.«
    »Was soll ich?«
    »Nehmen Sie Ihre Kette ab, legen Sie sie in Ihre Handtasche. Die Ohrringe und die Ringe bitte auch. Der Ehering kann draufbleiben. Sie sind von Kopf bis Fuß maskiert. Sie bedienen sich etlicher Hilfsmittel, um nicht gesehen zu werden. Sie können sich nicht mehr fühlen. Sie sind so mager, dass Sie überall hindurchschlüpfen können, ohne dass Sie jemand sieht. Sie frieren, obwohl es 32 Grad im Schatten sind. Ihr Gesicht strahlt, und dabei mahlen Ihre Kieferknochen ununterbrochen aufeinander. Sie beißen sprichwörtlich permanent die Zähne zusammen.«
    Helene nahm Marie vorsichtig ihre Sonnenbrille ab und sah ihr fest in die Augen, die in der Sonne so blau wie der Bodensee glänzten. Sie gab Marie die Brille und trat langsam hinter sie, öffnete den Verschluss der langen Perlenkette und ließ sie in Maries Handtasche gleiten. »Sind Sie traurig?«
    Das hatte sie schon mal gefragt. Auch jetzt war Marie außerstande, etwas anderes zu sagen als: »Nein.«
    Helene sah hinunter auf ihre Schuhe, auf den Porree, in die Sonne, auf das Kirchenportal und fummelte an ihrer Kette herum. Sie tat etwas Unprofessionelles. Es gab ihr zu denken, machte ihr einen Augenblick zu schaffen. Aber was im Leben machte einem nicht zu schaffen, und was war Professionalität im Vergleich zu Profession. »Kommen Sie mit hoch. Sie sind nicht zufällig hier. Kommen Sie, ich habe Zeit. Meine Kinder sind heute mit ihrem Vater unterwegs. Ich habe Zeit für Sie.«
    Marie warf die Haare zurück, lachte und fragte: »Haben Sie nichts Besseres zu tun? Müssen Sie nicht noch in den Dritte-Welt-Laden

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