Rosenrot ist mausetot - Kriminalroman
erzählen konnte. Und die mir alles erzählen konnte. Ja, ich gestehe Dir jetzt etwas, was sonst niemand mehr weiss: Ich habe eine Schwester. Oder besser: Ich hatte eine Schwester.
In meinen autobiografischen Notizen habe ich diesen Umstand verschämt verschwiegen. Es gab nur einen winzigen Hinweis, den auf die Vorliebe meines Vaters für das Märchen «Schneeweisschen und Rosenrot». Diese Vorliebe kam nicht von ungefähr. Er hatte tatsächlich zwei Töchter, die von Aussehen und Charakter her haargenau ihren märchenhaften Vorbildern entsprachen.
Wie im Märchen waren wir beide gute Mädchen, waren Kinder, die ihren Eltern viel Freude machten. Und wie im Märchen waren wir unterschiedlich. Ich war das rothaarige Energiebündel, das gerne draussen herumtollte. Meine Schwester dagegen war aschblond, war eher still, in sich gekehrt und bevorzugte den Aufenthalt im Haus. Die Spitznamen Schneeweisschen für sie und Rosenrot für mich ergaben sich von selbst.
Wir wuchsen, tatsächlich von einem Schutzengel behütet, auf und wurden flügge. Ich studierte Gartenarchitektur, Schneeweisschen Innenarchitektur. Danach arbeiteten wir oft zusammen an denselben Projekten und ergänzten uns dabei so gut wie in den Kindertagen. Alles hätte so weiterlaufen können. Wir hätten wie im Märchen glücklich leben können bis ans Ende unserer Tage.
Wenn nicht eines Tages der Bär in unser Leben getrampelt wäre. Der Bär war ein manchmal etwas brummiger, ansonsten aber sehr charmanter junger Mann aus bestem Hause, was in seinem Fall auch einen soliden wirtschaftlichen Hintergrund einschloss. Kurzum, der Bär war steinreich und gebildet, sodass es kein Wunder war, dass sich meine Schwester und ich geschmeichelt fühlten, als er begann, uns den Hof zu machen.
Auch diese Geschichte endete wie im Märchen: Schneeweisschen würde den Bären heiraten, den sie damals noch für einen Prinzen hielt. Es gab nur einen Haken. Der vermeintliche Prinz hatte keinen Bruder, den ich heiraten konnte.
Deshalb beging ich den grössten Fehler meines bisherigen Lebens und begann eine Affäre mit meinem künftigen Schwager. Eine reichlich enttäuschende übrigens. Nicht nur hatte er den Sex-Appeal eines alten Brummbärs. Er entpuppte sich auch zusehends als ungehobeltes, zotteliges Urviech. Die Rückverwandlung vom Prinzen zum Bären sozusagen.
Als ich das endlich wahrhaben konnte und ihn rausschmiss, war es schon zu spät. Schneeweisschen war hinter unsere Affäre gekommen. Und rastete total aus. Sie beschuldigte mich des Verrats, womit sie ja nicht ganz unrecht hatte, und brach jeden Kontakt zu mir ab. All mein ehrlich gemeintes Flehen um Verzeihung prallte an ihr ab. In ihren Augen war ich gestorben.
Ihr heiliger Zorn entbehrte nicht einer gewissen Lächerlichkeit. Sie hing nämlich längst nicht mehr an ihrem Bären, hatte sie doch Zeit genug gehabt, dessen wahren Charakter kennenzulernen. Nur einer anderen gönnte sie ihn auch nicht, am wenigsten mir. Eine Zeit lang nach unserem Zerwürfnis lebte sie noch mit ihm in ihrem goldenen Käfig, im offiziellen Status der Verlobten. Dann war sie eines Tages einfach verschwunden. Nicht an irgendeinem Tag, sondern am Vorabend ihrer Hochzeit. Spurlos. Und nie wieder aufgetaucht. Einige Jahre darauf wurde sie auf Antrag ihres Beinahe-Ehemanns für verschollen erklärt.
Spekulationen um Schneeweisschens Verschwinden gab es reichlich. Der Bär selbst geriet in Verdacht, seine Verlobte umgebracht und verschwinden lassen zu haben, ehe er nachweisen konnte, dass er zum fraglichen Zeitpunkt geschäftlich auf einem anderen Kontinent unterwegs gewesen war. Hinweise auf ein Gewaltverbrechen fanden sich auch sonst keine, sodass man von einem freiwilligen Verschwinden ausgehen musste. Nach meinen Informationen glaubwürdig ist das Gerücht, sie habe dabei so viel bewegliches Vermögen ihres geplanten Ehemannes mitlaufen lassen, dass es gut für einen bequemen Neustart an irgendeinem schönen Ort auf dieser Welt gereicht hätte.
Auch ich habe seitdem nichts mehr von meiner Schwester gehört. Und seitdem plagen mich Schuldgefühle wegen meines möglichen Anteils an ihrem Ausflippen und Verschwinden. Doch das ist es gar nicht, was mich in diesem Zusammenhang akut plagt. Vielmehr beunruhigt mich ein in letzter Zeit immer wiederkehrendes Gefühl, Schneeweisschen sei in meiner Nähe und beobachte mich.
Ich weiss, liebes Tagebuch, dass dieses Gefühl jeder realen Grundlage entbehrt. Das macht es aber nicht weniger
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