unheimlich und bedrohlich. Wenn sich die Neurosen von Schneeweisschen so weiterentwickelt haben, wie ich es damals befürchten musste, ist ihr alles zuzutrauen. Auch ein spätes drängendes Bedürfnis nach Rache an mir.
Doch das alles ist jetzt über zwanzig Jahre her. Selbst wenn Schneeweisschen noch lebt, was ich bezweifle, müsste doch auch bei ihr mittlerweile Gras über die alten Verletzungen gewachsen sein. Wahrscheinlich sehe ich wirklich nur Gespenster.
* * *
Ich hatte Karl angerufen und gebeten, kurz zu uns hinaufzukommen, um ein wichtiges Beweisstück im Mordfall Rosengarten abzuholen. Nachdem er wieder zu Atem gekommen war und sich die Geschichte angehört hatte, schimpfte er zunächst, dass wir ein Beweisstück unterschlagen hätten, wofür er uns in ernsthafte Schwierigkeiten bringen könnte. Als ihm Adelina gezeigt hatte, was wir auf dem iPad schon alles gefunden hatten, beruhigte er sich wieder. Immerhin hatten wir seinem Team dank unserer Neugier ein ganzes Stück Arbeit abgenommen.
Die Existenz einer Schwester war auch für Karl neu. Er versprach, sich sofort darum zu kümmern, ehe er mit schweren Schritten hangabwärts zu seinem Auto stapfte, den iPad von Graziella Rosengarten unter den Arm geklemmt. Eine Stunde später rief er an, um zu berichten, die deutschen Behörden hätten Rosenrots Angaben bestätigt. Es gab tatsächlich eine Schwester, die vor über zwanzig Jahren verschwunden war und später für verschollen erklärt wurde. Danach fehlte auch in den behördlichen Akten jede Spur von ihr, der früheren Amanda Rosengarten.
Eine Schwester also, und vielleicht sogar eine böse und rachsüchtige. Das warf zwar ein neues Licht auf das Leben von Graziella Rosengarten, genannt Rosenrot, doch es trug wenig zur Erhellung ihres Todes bei. Eine seit zwei Jahrzehnten verschollene Schwester, von deren Wiederauftauchen nur die vagen Gefühle einer schuldgeplagten Frau zeugten, gab eine schlechte Tatverdächtige ab.
Nicht speziell hingewiesen hatten wir Karl auf den letzten kurzen Abschnitt von Rosenrots Tagebuch. Er würde ihn noch früh genug finden. Adelina hatte selbstverständlich den ganzen Text kopiert, sodass wir jetzt diese Passage im Wortlaut nachlesen konnten:
Heute mache ich mir Sorgen wegen meiner Partnerin Natalie Spross, die in der Zwischenzeit so etwas wie eine gute Freundin geworden ist. Sie wirkt schon eine ganze Weile angespannt und nervös. Manchmal hatte ich das vage Gefühl, sie hätte vor etwas Angst und fühlte sich bedroht, doch dann fand ich diese Wahrnehmung wieder selbst übertrieben.
Heute jedoch ist sie zur Gewissheit geworden. Natalie checkte in einer Gesprächspause ihre Mails auf dem Smartphone und wurde buchstäblich leichenblass. Ich habe besorgt nach dem Grund gefragt, doch sie ist mir ausgewichen und wollte ganz offensichtlich nicht darüber reden. Ich habe nicht weiter nachgebohrt, aber die Sorgen um sie bleiben. Bei nächster Gelegenheit werde ich sie darauf ansprechen.
Von:
[email protected] Betreff: Liegenschaftskauf
Datum: 10. Juli 08 : 17 : 23 MEZ
An:
[email protected] Sehr geehrte Frau Spross Döbeli
Ich gratuliere Ihnen zu Ihrem GartenForum! Die Mustergärten sind wirklich sehr schön und regen zu eigenen Gestaltungsideen an. Und dahinter diese riesige Baumschule, die eindrücklich zeigt, wie viele Gärten Sie zu füllen haben.
Ja, ich gebe zu, ich habe mich unerkannt unter die Gäste Ihres Festes von gestern Abend gemischt. Sie scheinen ja die Tradition des Netzwerkens, die Ihr Grossonkel zur Meisterschaft entwickelt hat, nahtlos fortzuführen. Wirklich erstaunlich, wer alles von den Leuten, die in Zürich was zu sagen haben, da war.
Sie haben aber auch ein wunderbares Fest organisiert. Den Gästen hat es bestens gefallen. Jedenfalls bis zu dem Moment, als die ersten anfangen mussten, die spärlichen Toiletten aufzusuchen.
Ich habe natürlich nichts gegessen und weiss deshalb nicht, wie es geschmeckt hat. Die Wirkung des von meinen Leuten beigemischten Pülverchens jedenfalls war grandios. Wie die lokalen Medien heute Morgen ausführlich berichten, sieht es in Ihrer Baumschule und im angrenzenden Waldstück aus wie – verzeihen Sie die drastische Formulierung, sie stammt nicht von mir – in einem Sch…haus. Und es riecht auch so.
Lebensmittelvergiftung am Spross-Fest – ich weiss nicht, ich weiss nicht. Kann schon sein, dass sich der eine oder andere betroffene Gast überlegt, ob er nächstes Jahr wiederkommt oder,