Rosenrot ist mausetot - Kriminalroman
ich vor, vielleicht sollten wir die Ebene der üblichen Psychologie verlassen und tiefer in jene des Märchens eintauchen, das in unserem Fall eine nicht zu übersehende Rolle spielt. Adelina willigte ein. Wir versuchten herauszufinden, welche versteckten Botschaften das Märchen von Schneeweisschen und Rosenrot beinhalten mochte.
Schneeweisschen und Rosenrot
Auch ein kleiner Garten
ist eine endlose Aufgabe.
Karl Foerster
Wir waren uns rasch einig: Irgendetwas stimmte an diesem Märchen nicht. Märchen schildern ja in der Regel nicht einfach eine märchenhafte Realität im Sinne eines Idealzustands. Vielmehr erzählen sie fast immer von Konflikten und deren Lösung.
Konflikte gibt es in «Schneeweisschen und Rosenrot» schon, jene zwischen den Menschen und dem Zwerg. Zwischen den Menschen jedoch herrscht eitel Einigkeit, keine Spur von Meinungsverschiedenheiten oder gar Konflikten. Ganz besonders gilt dieser märchenhafte Zustand für das Verhältnis zwischen den beiden Schwestern. Sie vertreten zwar unterschiedliche Akzente, doch sie sind ein Herz und eine Seele. Und weil am Schluss nur eine von beiden den Prinzen heiraten kann, wird für die andere flugs ein zweiter Prinz herbeigezaubert, dass auch so jeder Anlass für einen Streit entfällt.
Warum, fragten wir uns, braucht das Märchen überhaupt zwei Mädchen? Für die Rolle, welche die beiden in der Erzählung übernehmen, hätte eines völlig genügt. Und weil Märchen im Allgemeinen sehr ökonomisch erzählen und auf überflüssigen Ballast verzichten, musste mehr dahinterstecken. Es konnte einfach nicht sein, dass zwei Schwestern eingeführt wurden, ohne dass es auch zwischen diesen Konflikte gab.
Gerade der aufgesetzt wirkende Schluss, vermuteten wir in unserer laienhaften Märcheninterpretation, könnte ein Hinweis darauf sein, dass in der Fassung der Gebrüder Grimm etwas geglättet oder gar verschwiegen worden war, was in früheren, noch raueren Fassungen noch drinsteckte: ein Konflikt zwischen Schneeweisschen und Rosenrot.
Adelinas Finger waren während unseres Gesprächs weiter auf ihrem iPad umhergehuscht. Plötzlich stiess sie einen überraschten Pfiff aus: Beim Googeln hatte sie entdeckt, dass es eine aktuelle Verfilmung des Märchens gab. Auf dem deutschen Fernsehsender MDR . In der Mediathek des Senders konnte man sich diesen Film sogar anschauen. Da wir ohnehin nichts Besseres zu tun hatten, beschlossen wir, genau das zu Inspirationszwecken zu tun. Vielleicht war die eine Stunde, die der Film laut Ankündigung lang war, ja gut investiert.
Der Film erzählt in einer mittelalterlichen Szenerie im Wesentlichen die Originalgeschichte von Schneeweisschen und Rosenrot, allerdings mit einigen interessanten Ergänzungen und Abweichungen. So wird zum Beispiel die Herkunft des Zwergenschatzes geklärt. Dieser wird dem König, also dem Vater des Prinzen, mit der Verheissung auf eine wundersame Vermehrung abgeluchst («Ich sage nur ‹Amsterdamer Börse›!»); die Zwerge sind also der Prototyp des gierigen Kapitalisten.
Noch interessanter in unserem Zusammenhang: In der Filmversion sind die Unterschiede zwischen den beiden Schwestern wesentlich ausgeprägter als im Grimm-Märchen. Während sich Schneeweisschen nach einem beschaulichen Leben an der Seite ihres Märchenprinzen sehnt, will Rosenrot nur eines: hinaus in die Welt, um diese zu entdecken und darin Abenteuer, ja Gefahren zu erleben.
Konsequent ist deshalb der Schluss des Films. Als Schneeweisschen endlich in die Arme ihres Prinzen sinkt, taucht an der Seite von Rosenrot ein junger Mann auf. Dieser stellt sich nicht etwa als Bruder vor, sondern als entfernter Verwandter, der deshalb in der Königsfamilie als Aussenseiter gilt, weil er das geruhsame Leben am Hof nicht aushält und sich lieber in der weiten Welt aufhält. Rosenrot ist begeistert und zieht mit dem jungen Mann auf dem Rücken eines Pferdes durch das Stadttor hinaus in die grosse Welt. Ob sie sich später in ihren Begleiter verliebt und ihn gar heiratet oder ob sie ihn einfach als Fluchthelfer benutzt hat, bleibt offen.
Was wäre, wenn Rosenrot eines Tages zurückgekommen wäre und ihrer Schwester den Prinzen ausgespannt hätte? Besonders schwer dürfte ihr das nicht gefallen sein, sie hatte wesentlich mehr Temperament als ihre blasse Schwester, und eine Menge Interessantes wusste sie von ihren Streifzügen zu berichten. Dann könnte es gewesen sein wie bei den realen Rosengarten-Schwestern. Rosenrot hätte eine kurze Affäre
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