Rosenrot ist mausetot - Kriminalroman

mit dem Prinzen gehabt, bis dieser sie langweilte und sie zum nächsten Blütenkelch aufbrach. Schneeweisschen aber wäre mit gebrochenem Herzen zurückgeblieben.
    Oder aber mit unendlicher Rachsucht. Die hätte so übermächtig sein können, dass sie die notwendigen Kräfte zum geduldigen Abwarten ihrer Erfüllung verlieh. Vielleicht sogar über viele Jahre. Man hatte von solchen Fällen schon gehört.
    Hatte Graziella Rosengarten also mit ihren düsteren Vorahnungen recht gehabt? Waren ihre Befürchtungen, ihre verschollene Schwester könnte wieder auftauchen und sich an ihr rächen wollen, mehr als ein Hirngespinst gewesen? Hatte das Märchen von Schneeweisschen und Rosenrot tatsächlich einen verdeckten Hinweis auf einen machtvollen Konflikt zwischen Amanda und Graziella Rosengarten enthalten?
    Auszuschliessen war das alles nicht. Und je mehr wir uns auf den Gedanken einliessen, desto überzeugender erschien er uns. Wir hatten nur nach wie vor keinerlei Beweise. Deshalb erzählte Adelina beim Telefongespräch mit Natalie Spross dieser nichts von unseren Spekulationen. Sie bat sie nur um einen Gesprächstermin am folgenden Vormittag, der uns prompt gewährt wurde. Um mehr über den möglichen Konflikt zwischen den Schwestern zu erfahren, mussten wir mehr als bisher wissen, wer Graziella Rosengarten in der Rolle der Rosenrot wirklich war. Dabei könnte uns ihre Freundin Natalie Spross vielleicht helfen.

Verdeckte Ermittlungen
    Am leuchtenden Sommermorgen
    Geh ich im Garten herum.
    Es flüstern und sprechen die Blumen,
    Ich aber, ich wandle stumm.
    Heinrich Heine
    Nein, von einer Schwester hatte Graziella nie etwas erzählt, wusste Natalie Spross am nächsten Vormittag zu berichten. Sie hätten zwar, wie das unter Frauen so üblich sei, ziemlich schnell über ziemlich alles gesprochen, nachdem sie ihre gegenseitige Sympathie entdeckt hatten, doch von einer Schwester oder gar einem Konflikt mit ihr sei nie die Rede gewesen. Warum Graziella dazu geschwiegen habe, könne sie nicht sagen, aber es mache den Anschein, als ob es einen gewichtigen Grund für dieses Versteckspiel gegeben habe.
    Graziella selbst sei jedenfalls sicher keine Heilige gewesen. Sie habe ihr freimütig gestanden, in jüngeren Jahren nichts ausgelassen zu haben, schon gar nicht mit Männern. In dieser Zeit sei sie ein wilder Feger gewesen. Ihre kurzfristige Ehe, zu deren Ende sie nichts weiter erklärte, als dass die Charaktere unvereinbar gewesen seien, hatte den Schlusspunkt unter diese Lebensphase gesetzt.
    Seitdem hatte sie mit Männern anscheinend nichts mehr am Hut und ging voll und ganz in ihrer Arbeit auf. Ihren wachsenden Erfolg verdankte sie einem Übermass an Talenten und Fähigkeiten, aber auch einem ebensolchen Überfluss an Willens- und Schaffenskraft, wozu noch ein gewinnendes Wesen und ein attraktives Äusseres kamen. Sie wusste um ihre Stärken und trat entsprechend überzeugt von sich selbst auf, was auf schwächere Naturen leicht als Dominanz wirken kann. Was sie vom Schicksal und von ihren Genen mitbekommen hatte, konnte schon mal den Neid solcher Naturen wecken. Von ihrem Erfolg ganz zu schweigen.
    Nur, sinnierte Natalie Spross weiter, pflegen schwächere Naturen nicht zu morden, auch nicht aus Neid oder Eifersucht. Dazu ist nur jemand fähig, der selbst über machtvolle Stärke verfügt. Wenn auch vielleicht im Verborgenen und nach aussen unsichtbar. Ein tiefes Wasser, das nicht still ist.
    An diesem Punkt beschlossen Adelina und ich in stummem Einvernehmen, Frau Spross in unsere Überlegungen über die wahre Identität von Amanda Raggenbass einzubeziehen. Sie hörte unseren Spekulationen zunächst ungläubig, dann mit wachsendem Verständnis zu. Auszuschliessen sei das tatsächlich alles nicht.
    Und doch blieb sie skeptisch, was uns nicht mehr verwunderte, als wir erfuhren, dass Amanda Raggenbass eine gute Kundin von Spross war. Der Garten ihrer Villa, der uns schon im Bild aufgefallen war, war noch unter der Ägide des alten Spross entworfen und realisiert worden und wurde seitdem von ihrer Firma gepflegt und unterhalten. Mit Frau Raggenbass selbst hatte allerdings nie jemand persönlichen Kontakt gehabt, alles lief über deren rechte Hand. Mehr, als dass die Rechnungen immer pünktlich bezahlt wurden, wusste man deshalb über Frau Raggenbass auch bei Spross nicht.
    Ratlos schlürften wir schweigend unseren Kaffee. Wie konnten wir mehr über Amanda Raggenbass und deren wahre Identität erfahren? Wieder einmal driftete ich in