Rosenrot ist mausetot - Kriminalroman
gewaltigen Satz auf den Esstisch. Dort lagen, auf mehrere Stapel verteilt, diverse Ausdrucke und Notizen auf Papier, die alle mit dem Fall zu tun hatten. Wir hatten sie dorthin gelegt, um noch einmal nach bisher verborgenen Hinweisen zu suchen, waren aber dafür wegen der Hitze bisher zu träge gewesen.
Von der Existenz dieser Papierhaufen konnte Grizzly nichts wissen. Bei der Landung schlidderte er darauf aus und rutschte auf den nächsten Stapel. Erschrocken verliess er den ungastlichen Ort, hüpfte wieder auf den Boden und verzog sich ins Schlafzimmer.
Grizzlys unfreiwillige Aktion hatte zwei Blätter zu Boden schweben lassen. Ich hob sie auf, um sie später wieder an den richtigen Ort einzusortieren. Das konnte warten. Erst einmal genossen wir unser kleines Mahl mit Appenzeller Secret und Brot aus der Bäckerei des Hirschen.
Auch diesmal setzte die Seelenfrieden schenkende Wirkung zuverlässig ein. Bald fühlten wir uns in der Lage, ohne Druck und mit offenem Geist wie geplant noch einmal die Papiere auf Hinweise zu durchforsten. Adelina nahm die beiden heruntergefallenen Blätter in die Hand, um sie einzuordnen. Sie warf einen kurzen Blick darauf, stutzte und sah noch einmal genauer hin.
Sie zeigte mir die beiden Blätter. Beim einen handelte es sich um eines der Erpresser-Mails, beim anderen um einen Teil des Tagebuchs von Graziella Rosengarten. Beides war mir wohlbekannt, und ich konnte darauf nichts Auffälliges entdecken. Adelina belehrte mich eines Besseren. Es gab eine winzige Gemeinsamkeit zwischen den beiden Blättern. Auf beiden stand ein weiblicher Vorname, beim einen der vermutlich fiktive Name der Erpresserin, auf dem anderen der reale Name von Rosenrots Schwester. Und in beiden Fällen handelte es sich um denselben, nicht gerade häufigen Vornamen.
Ihre weibliche Intuition, gab sich Adelina überzeugt, sage ihr, dass das kein Zufall sein könne. Dass ein Zufall wie die von Grizzly verursachte Kombination zweier Papiere gepaart mit Intuition ein machtvolles Mittel der Erkenntnis sein kann, wusste ich theoretisch wie praktisch. Dennoch blieb ich skeptisch. Wenn beide Namen real wären, gäbe es eine gute Chance, dass tatsächlich ein Zusammenhang besteht. Doch das war hier nicht der Fall. Alle Beteiligten waren sich bisher einig gewesen, dass der Name unter den Erpresser-Mails fiktiv war und nichts mit der real existierenden Amanda Raggenbass zu tun haben konnte.
Vielleicht lag es an dem Pfeifchen, das wir zum Kaffee nach unserer Mahlzeit geraucht hatten, dass wir uns auf ein geistiges Spiel einliessen, das ebenfalls schon oft zu Erkenntnissen geführt hat: ohne einengende Beschränkungen zu fragen, was wäre, wenn.
Was wäre, wenn es sich bei der Unterzeichnerin der Erpresser-Mails doch um die echte Amanda Raggenbass handeln würde? Und, wo wir schon mal bei kühnen Gedankenflügen waren: Was wäre, wenn es sich dabei um die verschollene Schwester von Rosenrot handeln würde, von der sich diese immerhin bedroht fühlte?
Das Gewitter war mittlerweile mit einem heftigen Regenguss losgebrochen und hatte eine schlagartige kräftige Abkühlung gebracht. Unseren hitzigen Gedankenfluss vermochte das nicht zu kühlen. Die Theorie, die reale Amanda Raggenbass sei nicht nur die Erpresserin und Mörderin, sondern auch die wieder aufgetauchte Amanda Rosengarten, würde den ganzen Fall auf einen Schlag erklären und lösen. Dumm war nur, dass es sich dabei um eine offensichtlich sehr weit hergeholte Theorie handelte. Wir brauchten dringend Fakten.
Schon war Adelina im Netz, um nach Informationen über die real existierende Amanda Raggenbass zu suchen. Ich schaute ihr dabei zu und musste feststellen, dass ihr Gesicht lang und länger wurde. Die Ausbeute war mager. Viel mehr, als wir schon wussten, enthielt sie nicht. Amanda Raggenbass war eine schwerreiche, sehr zurückgezogene Dame, von der man nicht viel mehr wusste, als dass sie grosse Summen für die Förderung von kulturellen und philanthropischen Werken ausgab.
Genau so viel und so wenig stand auch im einzigen öffentlich zugänglichen Internet-Beitrag über Amanda Raggenbass, den Adelina gefunden hatte. Es war der Eintrag in der Liste der dreihundert reichsten Schweizer in der «Bilanz». Dort rangierte sie mit einem geschätzten Vermögen von zweihundertfünfzig Millionen auf Platz zweihundertvierundvierzig. Ein kleiner zusätzlicher Satz in dem sehr kurzen dazugehörigen Porträt erregte unsere Aufmerksamkeit: «Durch ihre Spenden schrumpft ihr
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