Rosenrot, rosentot
an und handelten einen günstigen Preis aus. »Fünfundsechzig?«, fragte Neil dann. »Ich habe nur ungefähr fünfundfünfzig bei mir. Wie wär’s damit?« Bei »Super 8« ließen sie meist mit sich handeln; »Motel 6« war da schon ein wenig heikler. Wenn wir dann unser Fünfundfünfzig-Dollar-Zimmer hatten, klatschten wir uns ab, sprangen aufs Bett, duschten zusammen und nahmen sämtliche Seifen-Proben mit.
Die Seifen ließen mich wieder an meine Mutter denken. Ich schuldete ihr zumindest einen kurzen Besuch. Sollte sie je erfahren, dass ich hier oben gewesen war und nicht bei ihr vorbeigeschaut hatte, würde sie mir übelste Vorwürfe machen, die ich dann wahrscheinlich sogar verdiente. Also wühlte ich in meiner Handtasche nach dem Handy und wählte ihre Nummer.
Als sie sich meldete, nahm ich das Bonbon aus meinem Mund und sagte: »Hi, Mom. Rate mal, wo ich bin ...«
Die kosmische Dualität
November 1990
Am Tag nach Rose’ Verschwinden wussten wir noch nicht, dass sie weg war. Wir wussten bloß, dass sie am Nachmittag nicht zu Charlotte gekommen war.
»Vielleicht hat sie den Schulbus verpasst«, vermutete Charlotte schulterzuckend und drückte den »Power«-Knopf an ihrem Nintendo.
Den ganzen Nachmittag über lief das Super-Mario-Geklimper. Ba- PLING , ba- PLING , ba- PLING bimmelte es aus dem Apparat, während Charlottes schnauzbärtiger Wicht Münzen einsammelte.
Nach ungefähr einer Stunde klingelten mir von dem Münzengeklimper die Ohren. Also schlich ich mich aus dem Zimmer, zog meinen Mantel über und ging nach draußen. Dort setzte ich mich an den Gartentisch der Familie Hemsworth und zurrte meinen Mantel fest um mich. Charlotte und ich hatten im Sommer immer hier gesessen, wenn Rose uns Sandwiches und Limonade nach draußen gebracht hatte. Nun, im kalten Herbstwind, schien mir das sehr lange her zu sein. Der Tisch sah grau und abgesplittert aus, das Gras tot.
Einige verirrte Blätter kullerten raschelnd durch das Gemüsebeet und blieben dort an den nackten Tomatenspalieren sowie den braunen Zweigen hängen, die einst Kräuter gewesen waren. Obwohl ich nicht wusste, warum, dachte ich bei dem Rascheln der Blätter an Rose’ Haar, das ihr seitlich ins Gesicht geweht wurde – wie gestern Abend, zwar von einem ähnlichen, aber etwas milderen Wind. Mir fiel wieder ein, wie traurig mich die Vorstellung gemacht hatte, Rose würde uns eines Tages verlassen, und plötzlich holte mich dasselbe Gefühl wieder ein – nicht bloß die Erinnerung an die Traurigkeit, sondern sie selbst. Ich wollte mich ohrfeigen, weil ich daran dachte und weil ich diesen Kummer zuließ, denn tat man das erst einmal, konnte man ihn nicht mehr bändigen.
Also stand ich vom Picknicktisch auf, verließ den Garten und ging die Straße hinauf. Ich passierte erst ein Haus, dannnoch eines. Mrs. Shepherd stand in ihrem Vorgarten und schrie: »Lucille! Lucille!« Ein typischer Alte-Frauen-Name für eine Alte-Frauen-Katze. Irgendwie ein Jammer für die Katze, dass sie so genannt wurde, dass sie ihr ganzes Leben lang Mrs. Shepherds verweichlichtes Haustier sein musste und keiner je wissen würde, was für eine Katze sie wirklich war oder zumindest hätte sein können.
Ich sah Mrs. Shepherd zu, wie sie mit ihren Händen einen Trichter vor ihrem Mund formte und munter immer weiterrief. Sie schien nicht zu merken, wie traurig diese Kälte war – und ich wünschte, ich würde es auch nicht merken. Schließlich war es derselbe Wind, der gestern noch sanft Rose’ Haar hochgehoben und zur Seite geblasen hatte; er war wieder da, nur stärker. In dem Moment, in dem ich erschauderte, drehte Mrs. Shepherd sich zur Seite und entdeckte mich. Sie machte Anstalten, mir zuzuwinken, doch ich senkte den Kopf, wandte mich ab und tat, als hätte ich sie nicht gesehen. Wahrscheinlich wirkte ich ziemlich seltsam, wie ich so dastand und starrte; und ich wollte nicht erklären müssen, was ich hier machte. Also ging ich zurück zu Charlottes Haus.
Als das Telefon klingelte, sprang ich auf, ließ dann aber meine Mutter rangehen.
Etwa zur gleichen Zeit am Vorabend hatten wir einen merkwürdigen Anruf bekommen. Wir hatten uns gerade zum Abendessen hingesetzt, und ich nahm den Hörer ab. Doch am anderen Ende atmete nur jemand komisch. Wer auch immer das gewesen war, er hatte ängstlich geklungen und nach wenigen Sekunden wieder aufgelegt. Auf die Frage meiner Mutter, wer angerufen habe, antwortete ich, jemand habe sich verwählt.
Deshalb hielt ich diesmal
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