Rosenrot
sie ist nicht erreichbar? Überhaupt nicht?«
»Nein, ich habe alles versucht.«
Paul löste seine Hände von Saras, legte sie in den Nacken und lehnte sich zurück. Er schloss die Augen. Als er sie wieder aufmachte, war sein Blick ein anderer. Er starrte unverwandt in Saras Augen. »Wie nahe steht ihr euch?« fragte er.
Sara hielt seinem Blick stand und versuchte, ihn zu verstehen. »Nahe«, sagte sie. »Sie ist der stolzeste Mensch, den ich je getroffen habe. Und sie ist die beste Verhörleiterin des Polizeikorps. Aber manchmal ist es anstrengend, wenn sie geradewegs durch einen hindurchsieht.«
»Hast du sie in der letzten Woche viel gesehen?«
»Nein, fast gar nicht. Warum fragst du?«
»Hast du eine Veränderung bei ihr bemerkt?«
Sara dachte nach. Etwas sagte ihr, dass sie sich wirklich anstrengen musste. »Dienstag früh hat sie gesehen, dass ich schwanger war«, sagte sie langsam. »Sie kam nach ihrem bescheuerten Joggingtrip in den Umkleideraum und sah es. Ich konnte es nicht mehr verbergen. Sie hat sich so gefreut. Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. Aber in dem Moment habe ich erkannt, wie nahe wir uns tatsächlich stehen. Sie hat mich in den Arm genommen. Ich habe nicht besonders viele Freundinnen, ich bin keine, die zu Frauenstammtischen und so etwas geht. Wenn ich heute sagen sollte, daß ich überhaupt eine Freundin habe, dann ist es Kerstin.«
Paul Hjelm nickte. »Das war kurz bevor die Affäre Lundmark ins Rollen kam«, sagte er. »Seitdem sind Dinge geschehen. Was weißt du über das Verhältnis der beiden?«
»Das Verhältnis welcher beiden?«
Hjelm schnaubte leicht und schüttelte den Kopf. Hultin hatte es geheimgehalten. Grundström hatte es geheimgehalten. War das wirklich richtig in einer Lage wie dieser? Und wer war er, das Vertrauen zu brechen?
Aber hieß es wirklich, das Vertrauen brechen, wenn er Sara davon erzählte? Kaum. Er brauchte ihre Hilfe. Wie er sonst immer Kerstins brauchte.
Eine weibliche Gehirnhälfte.
Er sagte: »Ich nehme an, du weißt, dass Kerstin und ich vor einigen Jahren ein kurzes, aber intensives Verhältnis hatten, gerade als die A-Gruppe gebildet wurde?«
»Ja«, sagte Sara, »obwohl sie es nie erwähnt hat.«
»Hat sie irgendwelche früheren Verhältnisse erwähnt?«
»Nur dass es welche gegeben hat. Einmal sprach sie von einem Pastor, der an Krebs gestorben ist.«
Hjelm nickte. »Sonst nichts?«
Sara hob die Hände zu einer Geste der Ahnungslosigkeit.
»Das ist ja so anstrengend an Kerstin. Sie sieht einfach durch einen hindurch. Man hat keine Geheimnisse mehr, wenn man mit Kerstin gesprochen hat. Aber mit ihr selbst ist es genau umgekehrt: Sie selbst ist ein einziges Geheimnis.«
»Ich verstehe, was du meinst«, sagte Paul Hjelm mit einem kleinen Lächeln. »Ich erzähle dir etwas von ihrem Hintergrund. Aber denk daran, dass sie es in einem sehr intimen
Zusammenhang geäußert hat. Danach hat sie es nie mehr erwähnt.«
Sara nickte.
Er fuhr fort: »Als Kind wurde sie von einem Freund der Familie missbraucht. An Festtagen, und zwar in einem Garderobenschrank. Holger, Onkel Holger. Dann, als sie Polizistin geworden war, landete sie in einer ähnlichen Situation mit einem Kollegen in Göteborg, einem ranghöheren Kollegen. Er hatte keinerlei Absicht, seinen sexuellen Willen nicht durchzusetzen. Das überstieg ganz einfach seine Vorstellungskraft. So viel hat sie mir erzählt. So viel wusste ich bis Dienstag, ein paar Minuten nachdem sie dich im Umkleideraum umarmt hatte. Da erfuhr ich mehr. Er – der Kollege – saß im Vernehmungsraum hinter dem venezianischen Spiegel. Sein Name ist Dag Lundmark.«
»Aber Herrgott!« platzte Sara heraus. »Da ist sie doch befangen, sie hätte von Anfang an von dem Fall abgezogen werden müssen.«
»Die Umstände waren ziemlich speziell, das muss ich zugeben, aber wenn man es jetzt im nachhinein betrachtet, dann ist es glasklar. Natürlich hätte sie abgezogen werden müssen.«
»Inwiefern waren die Umstände speziell?«
»Es handelte sich um etwas so Banales wie eine Stellenbewerbung. Niklas Grundström und die Internabteilung haben uns zwar um Hilfe gebeten – aber das beruhte darauf, dass er einen neuen Chef für seine Stockholmabteilung sucht. Ich oder Kerstin. Grundström wollte uns in Aktion sehen. Kerstin hat ein ums andere Mal wiederholt, dass sie befangen sei. Aber Grundström und Hultin kamen zu dem Ergebnis, es sei so lange her, dass die Befangenheitsgrenze schon lange überschritten sei
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