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Rosenrot

Titel: Rosenrot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arne Dahl
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hatte sie keine Erinnerung an sich selbst als Fünfundzwanzigjährige. Sie versuchte, das Leben eines anderen Menschen zu leben. Ein männliches Leben. Es gab Bilder, Erinnerungsbilder, aber nie war sie selbst mit darauf.
    Was für Lücken es im Leben gab! Wer war sie eigentlich? Warum war sie Polizistin geworden? Was war das für eine eigentümliche Berufswahl?
    Ein Kampf. Sie erinnerte sich an Kampf, ununterbrochenen Kampf. Zuerst, um über die absonderlichen Vergewaltigungen ihrer Kindheit hinwegzukommen, die an Familienfeiertagen von einem männlichen Verwandten im Garderobenschrank verübt wurden. Onkel Holger, der eigentlich gar kein Onkel war, sondern ein entfernter Verwandter, der ausschließlich bei Familienfesten in Erscheinung trat, und zwar aus einem einzigen Grund: damit die kleinen Mädchen ihn im Garderobenschrank befingern sollten. Zum Ende hin wurde daraus die eine oder andere regelrechte Vergewaltigung. Dann war es vorbei mit den Vergewaltigungstreffen, und Onkel Holger starb ein paar Jahre später. An Leberzirrhose.
    Es war keine Kindheit im Schlamm, wie man sie nur vergessen und hinter sich zurücklassen will. Eine von denen, die einen entweder stark machen oder umbringen. Nein, eher recht grau. Kein größeres Licht, aber auch kein größeres Dunkel. Außer Onkel Holger. Ihre Familie war normale Göteborger Mittelschicht, mustergültig trist und knauserig, und sie war vollkommen überzeugt davon, dass keiner eine Ahnung davon hatte, was Onkel Holger im Garderobenschrank trieb. Ihre Sensibilität reichte dafür wohl nicht aus. Wahrscheinlich kam es deshalb zum Bruch. Sie war auf irgendeine Weise etwas größer als ihre Eltern. Und dass sie Polizistin werden wollte, nachdem sie einige Jahre wechselnde Jobs ausgeübt und zwei weitere Jahre mit wechselnden Studienfächern an der Universität verbracht hatte, konnten sie nicht nachvollziehen. Ihre Mutter, die Krankenschwester, wollte, dass sie Krankenschwester wurde. Ihr Vater, der Vorarbeiter auf der Werft, wollte, dass sie Vorarbeiterin auf der Werft wurde. Jedenfalls vermittelten sie genau dieses Gefühl – Schuster, bleib bei deinem Leisten. Übernimm dich nicht. Und wer will nicht Vorarbeiter auf der Werft werden?
    Ihre Schwester wurde Krankenschwester.
    Und was wurde sie?
    War ihre Berufswahl nur ein Teenageraufruhr? Trotz allem nicht. Sie meinte, sich an eine Art Gerechtigkeitspathos zu erinnern, das sie mit den anderen in ihrer Nähe teilte, aber es drückte sich nicht als ein politischer Aufruhr aus – eher ethisch. Was sie von den meisten ihrer Freundinnen (gab es denn welche?) trennte, war trotz allem Onkel Holger. Sie hatte gesehen, dass ein Verbrecher frei herumlief. Sie war Opfer eines Verbrechens geworden, ohne es zu wissen, und sie hatte gesehen, wie er seine Untaten begehen konnte, ohne bestraft zu werden. Niemand hatte ihr geholfen. Sie war, ja, rechtlos gewesen. Niemand sollte rechtlos sein.
    Doch, dachte sie ein wenig überrascht, so war es wohl gewesen. Das gleiche soziale Pathos wie ihre Umgebung, doch ohne den Zug hin zu politischen und sozialen Abstraktionen. Das Unrecht war etwas sehr Konkretes. Hier und jetzt. Und die konkreteste Unrechtsbekämpferin war – zumindest für ein verhältnismäßig naives Gemüt – die Polizei. Sie wollte die Instanz werden, die sie selbst vermisst hatte in jenen schwarzen Tagen, wenn sie mit rotgeweinten Augen an die Decke des Garderobenschranks starrte und den Schmerz im Unterleib verspürte.
    Niemand sollte rechtlos sein.
    Sich aus der Erniedrigung zu erheben – dieser seltenen, aber regelmäßigen Erniedrigung –, das war kompliziert. Es entstand ein tiefer Riss in ihrem Verhältnis zu Männern. Sie kam zur Polizeihochschule. Nur Männer um sie herum. Betont männliche Männer. War das auch ein Grund, ein bisschen weniger stubenrein? Sich an Männer zu gewöhnen? An Männlichkeit? Als eine Beschwörung? Es war unvermeidlich, dass sie die männliche Art, sich zur Umwelt zu verhalten, annahm. Angehende Polizisten mit der Welt zu ihren Füßen – mit der Macht in ihren Händen. Darin trainiert, sich zu bedienen. Und sie bediente sich. Sie war einer von den Jungs, sie fühlte sich wie einer von den Jungs. Ihr Sexualverhalten wurde ebenso expansiv wie das der Jungs. Und da merkte sie, dass sie eben nicht einer von den Jungs war. Sie akzeptierten sie – doch eher unwillig, widerstrebend – in allen Zusammenhängen, außer dem einen: Ein Männchen, das Weibchen jagt, ist etwas ganz anderes

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