Rosenrot
glaube, es ist am besten, Sie kommen mit«, sagte der zweite und wedelte weiter.
»Zur Wache«, sagte der erste mit der Hand vor der Nase.
Der Einbrecher lachte bitter und nieste.
Es war nicht sein bester Tag.
8
Die Wände sahen jetzt ganz anders aus. Die Decke, der Fußboden. Der Tisch, die Stühle. Es war lange her, seit sie allein in einem Vernehmungsraum gesessen hatte. Vielleicht hatte sie es nie getan.
Vielleicht war sie nie auf diese Weise allein gewesen.
Der Raum sah karg aus, endgültig verlassen. Nicht eine Bewegung, kein Leben. Als wäre sie der letzte Mensch auf der Welt.
Sie konnte ganz einfach nicht aufstehen.
Allein. Kerstin Holm war es ja gewohnt, allein zu sein. Sie hatte das Alleinsein sogar als Lebensform gewählt. Single. Ein Euphemismus für Leere.
Sie hatte die Landschaft der Vergangenheit besucht, und die sah ganz und gar nicht so aus, wie sie erwartet hatte. Leichter und schwerer zugleich.
Was hatte sie eigentlich erwartet? Dass Dag Lundmark vor Hass kochte? Dass er sich ihr an den Hals warf und ihr lebenslange Liebe erklärte?
Sie drehte den Ring, drehte und drehte.
Der Ring. Warum trug sie ihn noch? Die Beziehung war doch seit einem halben Dutzend Jahren beendet. Und sie war grauenhaft gewesen, zumindest zuletzt. Sie hatten sich ohne stärkere Gefühle getrennt. Am stärksten – von allen Gefühlen – war die Erleichterung gewesen. Dennoch war der Ring am Finger geblieben. Es wäre äußerst logisch gewesen, ihn in den Müll zu werfen oder zumindest in einer der hintersten Schubladen zu verstecken. Sie hatte es nicht getan. Es musste einen Grund gegeben haben.
Sie spürte ihn. Sie hatte keine Ahnung, welcher Art der Grund war, doch sie spürte ihn. Er schüttelte ihren Körper. Er machte es ihr unmöglich, aufzustehen. Sie näherte sich etwas -etwas Verbotenem.
Dem Verbotensten.
Das musste warten. Es war mit logischen Methoden nicht zu finden. Es war immun gegen die Logik, das spürte sie. Immun gegen die Logik der Detektivin. Und es war furchtbar. Welche anderen Methoden standen ihr zur Verfügung? Gar keine. Überhaupt keine.
Sie kehrte zu dem Verhör mit Dag zurück. Mit der Logik der Detektivin. Mangels subtilerer Methoden.
Es war leichter und schwerer gewesen, als sie erwartet hatte.
Warum?
Leichter vor allem, weil das Zusammenspiel mit Paul so gut funktioniert hatte. Aber auch leichter, weil es zwischen ihr und Dag nicht zu größeren Spannungen gekommen war. Leichter, weil er weder angriff noch sentimental wurde. Weil er beinah gleichgültig wirkte.
›Stimmt es, dass du sie gevögelt hast, Paul Hjelm?‹ Merkwürdig distanziert. Es war ja eine drastische Äußerung. Sie hätte mit starken Gefühlen ausgesprochen werden sollen, mit Hass oder Hohn, aber nein. Eher desinteressiert. Als hätte er abgelesen. ›Das hier muss mit. Sieh zu, dass du es mit rein bekommst! Warum? Und was er alles von Paul wusste. Warum? Hatte er ein echtes Interesse an dem, was Paul tat oder nicht tat? Kaum. Auch das hörte sich – eingeübt an.
Was trieb er da für ein Spiel?
Es war eindeutig nicht so, als säße er auf der Anklagebank wegen des tödlichen Schusses auf einen afrikanischen Flüchtling. Es schien nichts mit der Sache zu tun zu haben. Es war wohl dies, was das Verhör schwerer machte, als sie erwartet hatte. Auch. Gleichzeitig.
Und es war so ungreifbar.
Sie bekam kein Gefühl dafür, was Dag Lundmark während dieser Vernehmung eigentlich betrieben hatte. Sie bekam kein Gefühl dafür, wer er war. Es blieb vage.
Obwohl er das Zitat aus dem Hohenlied angebracht hatte. Wie ein sprudelnder Quell. Warum?
Warum war sie damals auf Dag Lundmark reingefallen? Wie war es dazu gekommen? Wer war sie gewesen, im Frühjahr 92? Nicht gerade ein Unschuldslamm, über dreißig und eine ziemlich routinierte Polizeiassistentin. Er war zehn Jahre älter, ihr übergeordnet und außerdem verheiratet. Er war lustig, polternd und fröhlich. Stark.
Ja, das war die deutlichste Erinnerung. Er war stark. Ein starker Mann. Einer, bei dem man sich anlehnen konnte. Sie musste ein großes Bedürfnis gehabt haben, sich anzulehnen — heute fiel es ihr schwer, sich das vorzustellen. Warum? Was hatte sie mit ihren Zwanzigern gemacht, diesem Jahrzehnt, auf das man immer mit solcher Wehmut zurückblickt? Es gab keine markanten Erinnerungen. Keine festen Beziehungen. Ein Leben als Single, das soweit wie möglich dem ihrer männlichen Kollegen glich.
Da war es: der Wunsch, wie sie zu sein. Deshalb
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