Rosenrot
kann nicht mehr«, klagte er. »Wonach suchen wir? Warum, verdammt noch mal, sitzen wir hier und drücken uns, statt Ragnarssons Wohnung auseinander zu nehmen? Warum holen wir uns nicht diesen Sack Rundqvist und drehen ihn durch die Mangel?«
Arto Söderstedt nahm langsam die Brille ab und rieb sich mit Daumen und Zeigefinger sorgsam die Augenwinkel.
Dann blickte er seinen Kollegen an. »Viggo. Mir ist schon lange klar, dass unsere Freundschaft auf Ungleichheit beruht und nicht auf Gleichheit. Das ist gut so. Nur mit seinesgleichen zu verkehren birgt die Gefahr, dass man eingeschränkt wird. Du bist meine Kontaktfläche mit dem Humus, in dem Würstchenbudenfritzen, Tabakladeninhaber und Hotelzimmermädchen gedeihen. Dafür bin ich dir dankbar. Aber es gibt auch andere Sphären. Und von diesen Sphären hast du deinerseits einiges zu lernen.«
»Eigentlich bist du gar nicht so, Arto. Ich kitzle nur deine aristokratischen Vorurteile hervor. Damit erfülle ich eine wichtige Funktion.«
»Möglicherweise bin ich ironisch. Das musst du selbst entscheiden.«
»Auf jeden Fall hast du nicht auf meine Frage geantwortet.«
»Meiner Meinung nach hab ich das.«
Obenstehender Dialog beschreibt ein nahezu kultisches Ritual, das täglich im Zimmer 302 des Polizeipräsidiums stattfindet. Eine recht erquickliche Art und Weise, den Tag zu verbringen. Zumal, wenn man sich in die letzten bebenden Worte eines möglichen Serienmörders vertieft.
»Dafür, dass der Text von einem Mann geschrieben ist, der im Begriff ist, sich das Leben zu nehmen – und der sogar gegen Ende des Briefs zu sterben scheint –, ist er sehr reflektiert«, sagte Arto Söderstedt und zeigte auf das Blatt Papier. »Beinah verdächtig reflektiert. Zuerst kommt eine Passage, wo er erklärt, warum er sich das Leben nimmt. Er hat eine Grenze passiert. Er hält es nicht mehr aus. Das ist logisch. ›Ich habe Dinge getan, mit denen kein Mensch, der trotz allem Mensch bleibt, leben kann.‹ Dann wird es kniffliger, finde ich. Er informiert darüber, dass er schon zu töten anfing, als er im big business war – und unvermittelt: ›Ich verließ die Frau, die mich liebte – ich stieß das Messer in den Leib meiner Geliebten.‹ Ist das ein metaphorisches Messer, oder ist es wirklich passiert? Falls letzteres zutrifft, ist diese Geliebte tot und begraben, wahrscheinlich für immer. Falls das erste zutrifft, lebt sie wahrscheinlich noch. Und das ist interessant. Ola Ragnarsson ist 1953 geboren. Er beendet seine Laufbahn als Finanzmann 1984, mit einunddreißig Jahren. Er behauptet, schon vorher angefangen zu haben zu töten, und die Beziehung liegt wohl auch nicht lange zurück. Der Bruch (sei es durch Mord
oder Verlassen) dürfte jedoch ungefähr zu der Zeit stattgefunden haben, als er als Geschäftsmann aufhört, sagen wir 1984. Dass der Brief dies alles in einem Atemzug nennt, lässt darauf schließen, dass das Töten, der Bruch mit der Geliebten und das Ende des Lebens als Finanzmann in eine Zeit fallen. Was Ursache und was Wirkung war, ist schwerer zu erkennen. Möglicherweise ist der Bruch mit – oder vielleicht das Verbrechen an – der sogenannten Geliebten die Ursache dafür, dass alles schief geht. Was dann folgt, die Mordmotive – ›Zu berauben. Das Feine in den Schmutz zu ziehen.‹ –, hat ja eine direkte Parallele, als er das Geständnis beim nächsten Mal unterbricht, und es geschieht erneut durch ›die Geliebte‹. Da hört es sich folgendermaßen an, und das ist vielleicht die sonderbarste Stelle des ganzen Briefs: ›Ich und meine Geliebte schufen etwas Schönes – doch die, die mich liebte, verbarg es vor mir, zog das Schöne in den Schmutz und warf es fort.‹ Vielleicht kann man es so verstehen, dass er jetzt anfängt, das Schöne in den Schmutz zu ziehen, weil die Geliebte es zuerst getan hat. Doch das ist ziemlich vage. Danach setzt abrupt das kühle Bekenntnis wieder ein: ›Zu töten wurde ein Freizeitinteresse‹ und so weiter. Die frühen achtziger Jahre waren eine Zeit, in der es an der Tagesordnung war, sich über richtig und falsch hinwegzusetzen, wie er sagt. Danach schreibt er, dass er nur im Ausland getötet habe. ›Ich weiß nicht, warum. Das eigene Nest beschmutzt man nicht, vielleicht war es das.‹ Mit dem Mord an der Familie Sjöberg in Schonen hat er seine eigenmächtig errichtete Moralgrenze überschritten und wird von Selbstekel ergriffen. Und das erscheint ihm als ausgesprochen logisch: ›Es dürfte schwer fallen,
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