Rosenrot
Norlander. »Ich kann bald keine Listen mehr sehen.«
»Aber wir haben einen ungefähren Zeitpunkt«, meinte Söderstedt. »Hagman wurde um halb zwei in der Nacht auf Dienstag in der Half Way Inn an der Ecke Swedenborgsgatan/Wollmar Yxkullsgatan aus seinem Leichenduft gefischt. Zuvor hatte er sich von seiner geheimen Wohnung in der Folkungagata in die Wollmar-Yxkullsgata begeben sowie den Einbruch begangen. Wie lange kann das gedauert haben? Eine Dreiviertelstunde, Stunde. Gegen halb eins. Da haben wir etwas, glaube ich. Siehst du die Nummer da? 0.23 Uhr am Dienstag, dem vierten September. Das scheint zu stimmen.
»Sieh mal einer an«, sagte Viggo Norlander und betrachtete die Telefonnummer.
Eine Katze sprang die Treppe hinunter, direkt an ihr vorbei. Sie schloss für eine Sekunde die Augen. Lauschte.
Nichts mehr. Außer dem rieselnden Geräusch des Wassers, das die leichten Schritte der Katze in Gang gesetzt hatten, Stufe für Stufe für Stufe.
Keine weiteren Geräusche. Keine weiteren Katzenschritte. Überhaupt keine weiteren Schritte.
Sie bekam das Gefühl, als könnten keine Geräusche in die Halle dringen. Als schluckte sie alles. Wie ein schwarzes Loch.
Sie behielt die Dienstwaffe in der Hand, den Lauf nach unten gerichtet.
Bloß auf kein Kind schießen, bloß auf kein Kind schießen.
Es war kein Kind da, auf das sie hätte schießen können. Leider, hätte sie beinah gedacht. Der Schnüffeljunge war nicht da. Musste sie alle Räume durchgehen? Auf die Gefahr, sich neue Schnittwunden zuzuziehen?
Sie erreichte den Treppenabsatz über der Werkhalle. Es war vollkommen still. Als hätte die Zeit aufgehört zu sein. Es kam ihr vor, als stünden sogar die Staubkörner in der Luft still.
Deshalb kam das grässliche Geräusch wie ein Schock. Ein langer Nagel, der ins Trommelfell gehämmert wurde und es durchdrang. Sie sprang einen halben Meter in die Luft. Sie schoss. Ihre Dienstwaffe ging los.
Ihr Kopf ein einziges Getöse.
Als sie halbwegs das Gleichgewicht wiedergefunden hatte, erkannte sie, dass es ein Telefon war, das schrillte. Es war wahnsinnig.
Es war das Telefon.
Und sie sah das ganze Szenario vor sich. Dag Lundmark spioniert Kerstin Holm nach. Er hat sie die ganze Zeit unter Aufsicht. Er kennt sie gut. Mit einem subtilen psychologischen Spiel treibt er sie zum Gewerbegebiet Ulvsunda, in die Halle, in der er vor einigen Tagen seine zeiteingestellte Tonbandaufnahme hat ablaufen lassen. Er bleibt ihr dicht auf den Fersen. Dann, genau im richtigen Augenblick, ruft er dieses Telefon an. Wenn sie antwortet, steht er mit seinem Handy vor der Tür. Die Falle ist zugeschnappt. Die Stunde hat geschlagen.
Wider besseres Wissen ging sie hin. Sie betrat den leeren Büroraum. Sie betrachtete das schrillende Telefon.
Sie sah, wie die verletzte Hand zitterte, als sie zum Hörer bewegt wurde. Als wäre sie kein Teil von ihr.
Als sie sich meldete, erkannte sie ihre eigene Stimme nicht. »Ja«, sagte sie. »Wo bist du, Dag?«
Einen Moment lang war es still. Dann sagte eine unverkennbare Stimme: »Hallo? Aber verdammich! Bist du das, Kerstin?«
»Viggo!« stieß sie hervor.
27
Eins hatte Sara Svenhagen ihrem Mann gegenüber nicht erwähnt. Ihr Bekannter am Karolinska Institutet war kein gewöhnlicher Bekannter. Er war ein früherer Freund. Außerdem war er ein international anerkannter Gerichtschemiker und Pharmakologe, Lichtjahre entfernt von dem Enthusiasten hinter dem Papierhaufen, der ihre Schultertasche so schwer machte. Er war Papas Junge, wenn man es so ausdrücken wollte: einer der engsten Mitarbeiter ihres Vaters. Und ihr Vater war Chefkriminaltechniker Brynolf Svenhagen.
Der frühere Freund hieß Ragnar Lööf und hatte lange als Brynolfs künftiger Schwiegersohn gegolten. Sie waren knapp zwanzig gewesen, und Saras wegen hatte er die ein wenig ausgefallene Karriere als Gerichtschemiker gewählt. Um ein Teil der Familie zu werden. Der vollkommen selbstverständlichen Familie Svenhagen-Lööf.
Brynolf Svenhagen war ein äußerst unsentimentaler Herr, aber als es zwischen Sara und Ragnar zum Bruch kam, hatte er offen seine Trauer gezeigt. Keinen Druck ausgeübt und keine aufkommenden patriarchalischen Attacken – einfach nur Trauer. Die Zukunft hatte so überschaubar gewirkt, so bequem.
Dass der Vater seines Enkelkindes statt dessen ein kleiner Kripomann aus einer Einwandererfamilie sein sollte, konnte Brynolf Svenhagen nur schwer verdauen. Nicht nur, weil der fragliche Mann einen Kopf kleiner
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