Rosenrot
war als seine Tochter, auch nicht, weil er das unregelmäßige und unsichere Leben des Kriminalbeamten gewählt hatte, nicht einmal, weil seine Eltern chilenische Kommunisten waren – sondern weil ihrer beider Persönlichkeiten einander diametral entgegengesetzt waren. Der schlagfertige und freimütige Jorge und der geduldige und schweigsame Brynolf fanden einfach nie ein Gesprächsthema. Und Sara wusste, dass der Vater glaubte, es sei sein Fehler. Wahrscheinlich mochte er Jorge besser leiden als sich selbst. Und sich das einzugestehen war nicht gerade einfach. Als Ergebnis dessen verstärkte sich das urgesteinhaft Herbe seines Wesens ins Absurde.
Aber sie liebte Jorge. Trotz all seiner Macken.
Ragnar Lööf hatte sie nie geliebt. Sie hatte es sich eingeredet. Und er hatte sich eingeredet, sie zu lieben. Es dauerte eine Weile, bis sie beide akzeptierten, dass zwischen ihnen nicht die geringste Anziehungskraft wirksam war. Sie hatten sich als gute Freunde getrennt. Ganz gewöhnliche Freunde. Das war ziemlich ungewöhnlich.
Und die Freundschaft hatten sie die Jahre hindurch bewahrt. Sie verkehrte mit der Familie Lööf, mit seiner Frau Lisa, einer Biochemikerin, und vier sehr dicht aufeinander konzipierten Mädchen im Alter von vier bis neun Jahren. Aber Jorge hatte Sara in diese Freundschaft nicht einbezogen. Es war ein wenig merkwürdig, doch es war nicht nötig gewesen. Die Familie Lööf gehörte zu ihrer persönlichen Sphäre.
Sie kannte die Korridore gut. Während ihrer Zeit bei der Abteilung für Pädophilie hatte sie unangenehm oft gerichtschemische Auskünfte einholen müssen. Meistens war es um Arzneimittel gegangen. Häufig Schlafmittel.
Sie schüttelte sich.
Das Karolinska Institutet schien wie stets aus Gängen und nichts als Gängen zu bestehen – in denen man sporadisch weißgewandeten Forschern begegnete, die mit ihren Gedanken anderswo waren.
Nach einer endlosen Wanderung kam sie ans Ziel. Dozent Ragnar Lööf saß an seinem übervollen Schreibtisch, den bebrillten Blick in ein sehr dickes Buch vertieft. Sie kannte das Buch. Es war dicker als die Bibel. Die amerikanische Entsprechung zu FASS, dem schwedischen Arzneimittelverzeichnis.
Sie musste sich mehrmals räuspern, bevor er sich umdrehte.
Und als er es schließlich tat, war sein Blick noch abwesend. Er war zwischen den Arzneimitteln hängen geblieben.
Lööf blinzelte ein paar mal, fixierte schließlich die kleine Rundung ihres Bauchs und eilte ihr entgegen. »Sara, ich werd verrückt!« rief er, umarmte sie und legte die Hand mit einer routinierten Wölbung um ihren Bauch. »Endlich.«
»Sieht man das wirklich so deutlich?« fragte sie und sah an sich hinunter.
»Jesses, ja doch«, sagte Dozent Ragnar Lööf. »Es ist wie ein inneres Licht.«
»Alles in Ordnung mit Lisa und den Mädchen?«
»Alles bestens. Reichlich intensiv. Viel Kindergarten und Schule und Freizeitheim und Reiten und Tischtennis und Theater und Kunstspringen und Disko und Schminken und Hunde und Katzen und Meerschweinchen und Wellensittiche und weiß der Kuckuck was. Setz dich. Ist ja einige Zeit her.«
Sara Svenhagen setzte sich. »Also hier bei der Arbeit erholst du dich?« sagte sie. »Liest aus schierer Lust die amerikanische FASS?«
Ragnar Lööf lachte kurz. »Wir haben alle unsere kleinen Perversionen«, sagte er. »Bist du dienstlich hier?«
»Ich fürchte, ja.«
»Aber die Pädophilen und ihre Schlafmittel hast du hinter dir gelassen?«
»Dies hier ist etwas anderes. Ich muss wissen, ob Dazimus Pharmas HIV-Blocker irgend etwas Besonderes an sich haben.«
Er starrte sie an und kratzte sich am Kopf. »Das haben sie«, sagte er. »Es sind die besten.«
»Die besten?«
»Die schwedische Forschung ist bei HIV-Blockern weltweit führend. Wir haben gute Arzneimittelforscher in Schweden. Feine Arzneimittelfirmen. Das Problem ist nur, dass alle drauf und dran sind, in amerikanischen Besitz überzugehen.«
»Die besten und – die teuersten?«
»Zweifellos. Dazimus‘ Blocker ist der Rolls Royce unter den Blockern. Verkauft sich gut in Westeuropa und den USA.«
Sie nickte. Winston Modisane hatte die Formel für den Rolls Royce der HIV-Blocker geklaut. Das konnte nicht ungestraft bleiben.
Sie kramte in ihrer Schultertasche. »Da war noch etwas«, sagte sie und förderte Papier auf Papier zutage. »Ich habe von einem neu angestellten Gerichtschemiker vollkommen überkandidelte Probenergebnisse bekommen. Glaubst du, du könntest sie für mich
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