Rosenwahn
alt ist sie denn?«
»Gül wird 21. Vielleicht hast du ja recht. Aber ich mache mir trotzdem Sorgen. Weißt du, sie ist erst vor drei Jahren hierher nach Lübeck gekommen. Viel hat sie mir nicht erzählt, Gül redet nicht gern über sich selbst. Aber so komisch es auch klingt, ich weiß, dass sie aus Berlin weggegangen ist, um Abstand von ihrer türkischen Familie zu haben. Da denkt man immer, in so einer Großstadt wie Berlin kann jeder leben, wie er will, aber Gül fühlte sich dort unter ständiger Beobachtung durch ihre große Familie, die ganzen Nachbarn und Freunde, die in bestimmten Vierteln ein unwahrscheinlich enges Netzwerk bilden.«
»Aber das gibt es in Lübeck doch genauso«, warf Georg ein, eingedenk seiner Erlebnisse in den letzten Tagen.
»Ja, aber ihre Familie hat vor allem keine Verbindungen hierher und das war ihr wichtig.«
»Und was hast du jetzt für Befürchtungen?«
Derya machte eine hilflose Geste. »Ich weiß nicht. Alle möglichen. Das ist einfach nicht normal, dass das Mädel sich eine ganze Woche nicht meldet! Sie hängt doch an ihrem Job bei mir und weiß, dass ich sie brauche!«
»Aber so junge Leute, die machen doch manchmal was Verrücktes und denken erst hinterher an die Konsequenzen.«
»Aber nicht Gül! Die braucht keine ganze Woche, bis sie das merkt!« Derya schüttelte energisch ihren Kopf.
»Und wenn sie einfach einmal wieder zu ihrer Familie nach Berlin gefahren ist?«, schlug Angermüller vor.
»Die Vorstellung finde ich auch nicht gerade beruhigend«, entgegnete Derya mit einer Grimasse. »Weißt du, manchmal hab ich so ganz furchtbare Fantasien. Das, was man halt so denkt bei traditionellen Türken: Entführung, Zwangsheirat, Ehrenmord.«
Natürlich fiel Georg sofort sein aktueller Fall ein und er registrierte erstaunt, dass Derya genau die gleichen Überlegungen anstellte wie er und seine Kollegen.
»Wie kommst du darauf? Hat dir das Mädchen denn erzählt, dass sie von ihrer Familie unter Druck gesetzt wird?«
»Wie gesagt, Gül redet nicht gern über sich oder ihre Familie. Ich weiß nur, dass sie ihre Eltern und Geschwister sehr vermisst, aber andererseits auch nach ihren eigenen Vorstellungen leben möchte. Und das lässt sich offensichtlich nicht vereinbaren, weshalb sie sich von der Familie gelöst hat, so weh ihr das auch tut.«
Wieder musste Georg an Meral Durgut denken, an ihre Tante und an das, was Simone Kaltenbach, die Lehrerin, über Meral erzählt hatte. Es war fast identisch mit Deryas Schilderung. Aber wie verhielt sich das eigentlich bei ihr?
»Sag mal, wie ist das denn mit deiner Familie? Wie haben deine Eltern sich verhalten, als du damals zum Beispiel zur Schauspielschule wolltest?«, sprach Georg ein wenig zögernd seinen Gedanken aus.
»Meine Eltern waren natürlich entsetzt! Die wollten, dass ich was Ordentliches werde. Auch wenn sie sich für mein Studium finanziell mächtig hätten anstrengen müssen, Jura hätten sie schon gut gefunden. Aber das war halt nicht mein Ding.«
»Aber deine Eltern haben schon akzeptiert, dass du deine eigenen Vorstellungen vom Leben verwirklichst?«
»Ach, darauf willst du hinaus!«, rief Derya und lachte. »Nein, ich hatte keinen Ehrenmord zu fürchten. Entschuldige, wenn ich lache, aber mein Baba ist ein ganz Lieber! Der hat es auch nicht leicht gehabt bei uns zu Hause. Meine Mutter ist eine sehr selbstbewusste Frau und dann noch meine Schwester und ich. Nix mit Verhüllen und drei Schritte hinterherlaufen!« Sie schüttelte energisch den Kopf. »Weißt du, zwischen Türken und Türken gibt es ziemliche Unterschiede, genau wie hier bei den Leuten auch. Ich weiß, dass ihr hier immer denkt, die Türken sind alle rückständige Anatolier, trinken keinen Alkohol, essen Döner und beten fünfmal am Tag. Meine Eltern sind einfache Leute, aber trotzdem modern und liberal. Vor allem lebenslustige Leute. Liegt natürlich auch an ihrer Herkunft aus der Großstadt. Alle unsere Verwandten sind Städter oder von der Westküste, auch da herrscht schon länger ein freierer Lebensstil, schon wegen des Tourismus.«
»Und wie ist das so mit der Religion?«, fragte Georg ein wenig unsicher. Er wusste zwar nicht warum, aber irgendwie war ihm die Frage ein bisschen peinlich. »Ich meine, eigentlich seid ihr doch Muslime, oder?«
»Nicht nur eigentlich, lieber Georg«, sagte Derya ein wenig spöttisch. »Aber meine Familie und ich, wir sind so sehr Muslime, wie du Protestant oder Katholik bist. Ihr feiert doch auch
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