Rosenwahn
Töchter am meisten zu interessieren, und er ahnte schon warum. Kinder waren wie Seismografen und empfanden wahrscheinlich jemanden wie Derya, die da so plötzlich im Leben ihres Vaters auftauchte, sofort als eine Frau, die sich in die Beziehung ihrer Eltern drängen wollte. Und da ihnen nichts so viel Angst machte wie eine Trennung der Eltern, wehrten sie sich gegen solche Störfaktoren auf ihre Art. Was denken sie eigentlich über Martin, ging es Georg plötzlich durch den Kopf? Den schienen sie ja fast schon als festen Bestandteil ihres Familienlebens zu akzeptieren.
Als er am Abend allein zum Abholen an der Schule aufgetaucht war, hatten die beiden plötzlich die Idee gehabt, in Steffens Haus übernachten zu wollen, und mit Engelszungen auf ihn eingeredet. Wo Mami jetzt nicht da war und sie doch so gern mal sehen wollten, auf welches Haus ihr Vater aufpasste, und außerdem hätten sie am nächsten Tag sowieso schulfrei. Mami würde sich freinehmen, hätte sie ihnen versprochen. Er könnte sie einfach am nächsten Morgen nach Hause bringen, wo man gemeinsam frühstücken könnte. Schließlich hatte er eingewilligt, aber an Derya natürlich überhaupt nicht gedacht. Warum auch? Denn wo war eigentlich das Problem? Er hatte nie behauptet, ein anderer zu sein als der, der er war. Und außerdem hatte Derya ihn auch nicht gefragt. Gut, er hatte kaum etwas über sich preisgegeben, nicht einmal erzählt, dass er verheiratet war. Wie sollte er auch jemandem, den er gerade erst kennengelernt hatte, erklären, dass sein Aufenthalt in Steffens Haus auch eine Art Denkpause für seine Ehe darstellte? Das Thema Astrid, seine angebliche Unzuverlässigkeit, ihre daraus resultierenden Alltagsprobleme und der ganze Kram, waren ihm viel zu konfus und zu persönlich erschienen, um mit einer fast fremden Frau darüber zu reden. Außerdem war er froh gewesen, endlich einmal nicht darüber nachdenken zu müssen.
Dumm, dass er jetzt keine Gelegenheit gehabt hatte, mit Derya zu sprechen. Denn er hatte vorhin erst wieder an ihre Mitarbeiterin Gül denken müssen. Wenn Derya morgen die Fotos in der Zeitung entdeckte, würde sie sich bestimmt noch mehr als bisher sorgen. Abgesehen davon, dass auch er inzwischen schon überlegt hatte, ob nicht vielleicht doch ein Zusammenhang bestehen könnte. Immerhin gab es da noch dieses andere Mädchen, das seit einem Jahr vermisst wurde. Vielleicht war Gül wirklich auf etwas gestoßen. Er wollte Derya keinesfalls in Angst und Schrecken versetzen, doch er musste sie unbedingt vor Alleingängen warnen.
Dass seine Nachbarin ziemlich konsterniert gewesen war, hatte er vorhin schon bemerkt. Das tat Georg natürlich leid, doch er konnte mit gutem Gewissen sagen, dass er zu keiner Zeit vorgehabt hatte, sie hinters Licht zu führen. Schließlich war ihm selbst erst gestern Abend aufgefallen, dass Derya aus seiner Freundschaft mit Steffen die falsche Schlussfolgerung gezogen hatte. Vielleicht würde die nächste Begegnung mit ihr anfangs ein bisschen heikel werden, aber das würde sich schnell wieder einrenken, denn eigentlich war doch gar nichts passiert, oder?
Kapitel VIII
Sah ein Knab ein Röslein stehen … Nun hatte die Polizei sie also gefunden. Im ersten Augenblick war ihm der Schreck in jede Pore gefahren. Dann aber war er wieder ruhig geworden, denn sie schienen im Grunde nichts zu wissen. Eigentlich hatte er sich immer absolut sicher gefühlt und nicht damit gerechnet, dass man sie jemals entdecken würde. Wenn er nur wüsste, wieso sie ausgerechnet jetzt fast gleichzeitig gefunden worden waren? Ein merkwürdiger Zufall war das schon. Aber es musste ein Zufall sein. Das Leben war doch voll davon.
Dass Meral und er zusammengefunden hatten, war das nicht auch ein Zufall? Obwohl – Zufall war hier wohl nicht ganz das richtige Wort. Eher Schicksal, Bestimmung, Vorsehung. Im ersten Moment ihrer Begegnung, als er in diese unendlich traurigen Augen sah, wusste er, dass er ihr helfen musste. Sie brauchte Hilfe, sie brauchte jemanden, dem sie voll und ganz vertrauen konnte, und die Vorsehung hatte ihn dazu auserkoren.
Sie redete, stundenlang. Er hörte zu. Sie war so ganz anders als die jungen Frauen, die er sonst kannte: zurückhaltend, von großer Ernsthaftigkeit und überhaupt nicht oberflächlich. Das Mädchen erzählte von den Eltern, die sie so liebte, von dem Schmerz, den ihr die Trennung bereitete, dass sie trotzdem nie wieder zu ihrer Familie zurückkehren könne, da
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