Rosenwahn
Mädchen und junge Frauen aus Einwandererfamilien hingehen können, wenn sie irgendwelche Schwierigkeiten haben. Ich weiß leider nicht, wie das heißt und wo das ist, aber vielleicht kannst du das ja herausfinden. So viele wird es davon in Lübeck nicht geben. Vielleicht hat sie sich dort ja gemeldet.«
»Ach ja, ich glaube, ich weiß schon, was du meinst«, sagte Derya und versuchte, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. »Wahrscheinlich meinst du dieses Krisenzentrum für Migrantinnen.«
Das war die Beratungsstelle, für die auch Friede arbeitete.
»Ja, genau!«
»Ich fürchte, die können auch nicht weiterhelfen. Ich habe neulich schon mit einer Freundin gesprochen, die dort arbeitet. Aber trotzdem vielen Dank, Hülya! Das war ganz lieb von dir!«
»Ich hab’s versucht«, meinte das junge Mädchen. »Sag, hast du heute schon die Fotos in der Zeitung gesehen?«
»Welche Fotos?«
»Auf der Titelseite der Lübecker Zeitung sind zwei türkische Mädchen abgebildet, die vor ein paar Jahren verschwunden sind. Und jetzt haben sie die gefunden. Die sind beide tot. Irgendwie gruselig, oder?«
Derya fröstelte. Ein blödes Wetter war das. Es regnete, die Luft war trotzdem noch irgendwie warm, und in der nassen Plastikregenjacke schwitzte und fror man gleichzeitig.
»Steht noch irgendwas dabei?«
»Nicht viel. Nur wann sie verschwunden sind und wo man sie gefunden hat, und dass man sich melden soll, wenn man mit sachdienlichen Hinweisen zur Aufklärung beitragen kann.«
»Na gut, Hülya, dann erst mal vielen Dank, dass du dich gemeldet hast. Wir bleiben in Verbindung, ja?«
»Ja, tut mir leid, dass ich nicht helfen konnte. Aber ich treffe heute noch Elif und Suna und werde mit denen auch noch einmal über alles sprechen. Vielleicht fällt uns zusammen ja noch etwas ein, an das wir bis jetzt nicht gedacht haben.«
»Okay, dann tschüss, Hülya!«
»Tschüss und einen schönen Tag«, verabschiedete sich das junge Mädchen liebenswürdig. Derya beeilte sich, ihre Gemüsefracht ins Auto zu bekommen, und rannte dann noch einmal durch die Nässe, um sich an der Tankstelle nebenan die Lübecker Zeitung zu besorgen. Noch im Auto las sie den Aufruf der Polizei, dass sich Zeugen, die etwas zu den Vorgängen um die beiden Mädchen zu wissen glaubten, bitte baldigst melden sollten. Zwei junge Mädchen, sie wären jetzt in etwa so alt wie Gül, Hülya und die anderen, beide von türkischen Eltern und beide tot. In der Zeitung stand nichts von einem Zusammenhang zwischen beiden Fällen. Derya spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog. Bisher hatte sie die Ängste ja noch beherrschen können, die sie immer mal wieder überfielen, wenn sie an Gül dachte. Aber jetzt? Ein erstes Klopfen hinter ihrer Stirn kündigte die rasenden Kopfschmerzen an, die sie so gut kannte und die sie in scheinbar ausweglosen Situationen immer bekam. Kein Mittel half dagegen, die Ärzte waren ratlos.
› Das ist ganz klar psychosomatisch ‹ , hätte Karin jetzt bestimmt wieder gesagt, eine von Deryas Freundinnen, die als Sprechstundenhilfe arbeitete. › Und typisch für euch Türken. Ihr habt ’ne Menge eingebildete Krankheiten. Ihr liegt doch lieber krank auf dem Sofa, als eure Probleme zu lösen. ‹ Das war Karin, die manchmal das Feingefühl eines Panzerkreuzers hatte und von einer fast beleidigenden Offenheit sein konnte. Wahrscheinlich hat sie in diesem Fall sogar recht, dachte Derya, aber die Erkenntnis half ihr auch nicht weiter. Sie musste unbedingt mit jemandem reden, sonst machte diese Sorge sie wirklich noch ganz krank. Kurz entschlossen machte sie sich auf den Weg zum Krisenzentrum für Migrantinnen. Friede mit ihrer besonnenen, ruhigen Art war jemand, dem sich Derya vorbehaltlos anvertrauen konnte. Außerdem kannte sie Gül – wenn Friede die Fotos der toten Mädchen in der Zeitung sah, würde sie jetzt bestimmt auch verstehen, warum Derya sich so ängstigte.
Die nette Frau, die im Zentrum am Schreibtisch saß, Termine koordinierte und den Telefondienst versah, bedauerte. Friede war nicht da. Natürlich, das hatte Derya völlig vergessen: Friedes Sprechstunden fanden dort immer nur zweimal die Woche abends statt. Schließlich hatte die Freundin eine eigene psychotherapeutische Praxis und leistete im Zentrum zusätzliche ehrenamtliche Arbeit. Die neuen Räumlichkeiten, die Friede erst im letzten Jahr mit einem Kollegen eröffnet hatte, lagen in der Innenstadt, gar nicht weit von hier. Derya ließ ihren Wagen lieber
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