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Rost

Titel: Rost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Meyer
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knarrte etwas – also war ihr Bruder wach. Sie hatte Schuldgefühle.
Hey, ich arbeite dran, sagte sie sich. Da Simons Familie sich bereiterklärt
hatte, für eine Pflegekraft zu zahlen, hatte sie schon ein paar Anrufe gemacht,
und morgen würde sie die Einstellungsgespräche führen. Schneller wär das nicht
gegangen. Wie sie’s einem bei den Rettungsschwimmern sagen – erst musst du dich
selber retten, dann kannst du an jemand anders denken. Und genau das machte
sie. Sie hatte sich auf festen Boden retten können, und jetzt kehrte sie zurück
und holte die Familie. Hast dir ganz schön Zeit dafür gelassen, dachte sie,
doch stimmte das wahrscheinlich gar nicht, und sie war nur streng mit sich
selbst. Sie war übrigens nicht furchtbar gut als Rettungsschwimmerin gewesen –
weil sie weder richtig groß noch eine gute Schwimmerin war, und mit Technik
konnte man nicht alles machen. Jemand, der nur schwer genug war, hätte sie
leicht runterziehen können.
    Sie stand auf und ging ums Treppenhaus herum, durchs kleine
Esszimmer und in die Küche. Von der Küche ging ein Wohnraum ab, der in ein
Schlafzimmer verwandelt worden war, dort hörte sie den Vater schnarchen und die
langen Pausen, wenn es schien, als bliebe ihm der Atem stehen. Er ist es,
dachte sie. Er ist das Problem. Ihr wurde plötzlich heiß am Hals und an den
Ohren, sie musste zur Spüle und sich das Gesicht waschen, sie kannte das
Gefühl, dass schlimme Dinge liefen, die sie erst begreifen würde, wenn’s zu
spät war, das Gefühl, das sie mit diesem Haus verband, ja, mit der ganzen
Stadt. Es überfiel sie jedes Mal, wenn sie nach Hause kam. Bald würden sie es
überwinden. Das war ein Gespräch, das sie seit Jahren plante. Ihrem Vater
sagen, es sei Zeit für beide Kinder, wegzugehen. Er könne im Haus mit einer
Krankenschwester wohnen oder umziehen ins Heim, für Isaac sei Schluss damit,
bei ihm zu bleiben.
    Vaters Liebling war stets sie gewesen. Isaac wurde von ihm behandelt
wie ein Pflegekind, weil Henry English halt ein massiger Mann war, der aus
einer Reihe massiger Männer stammte, und weil Isaac ein heller Kopf war, Henry
English aber nicht, und während ebendiese Fehler, kleiner Wuchs und
Feingeistigkeit, sich bei Frau und Tochter akzeptieren ließen, war es, sobald
auch sein Sohn sie aufwies, so als hätte der Charakter seiner Frau alles, was
er zu bieten hatte, alles, was er an sich schätzte, übertönt, selbst ihren
Teint, die Farbe Mexikos, hatte sie beiden Kindern noch vererbt. So dunkel war
die Haut eigentlich nicht, sie wirkten nur etwas gebräunt, man hätte Isaac für
einen aus den Bergen halten können. Sie wohl weniger. Ein bisschen
ausländischer. Sind die dunklen Augenbrauen, dachte sie. Und Henry English war
ganz blass und rothaarig. Gewesen jedenfalls.
    Die Mutter war zum Studium an der Carnegie Mellon in die USA gekommen, und soweit Lee wusste, war sie nie
zurückgegangen. Bis sie ihre Kinder kriegte, war jeder Akzent spurlos
verschwunden, weder Lee noch Isaac hatten sie jemals Spanisch sprechen hören.
Sicher, dachte Lee. Als hätte Henry das erlaubt. Es würd ihn auch bestimmt
nicht freuen, wenn er wüsste, dass du bei der Einschreibung am College und an
der Rechtsfakultät »Latina« angekreuzt hast. Diese Frage hatte sie öfters
durchdacht, und als der Augenblick kam, zögerte sie nicht. Es stimmte, und es
stimmte wieder nicht. Wenn sie es wollte, konnte sie entsprechend aussehen,
aber die Sprache war ihr fremd, sie kannte nicht einmal ein Wiegenlied – sie
war die Tochter eines Stahlarbeiters, aus einer Gewerkschaftsfamilie. In Yale
hatte sie dann Französisch gelernt. Was das College und die höheren
Fachsemester anging, wäre sie wahrscheinlich auch so reingekommen, ihre Aufnahmeprüfung
war tadellos gelaufen, auch für Jura fast perfekt, doch manchmal wünschte sie,
sie wär sich sicher. Logisch, dass allein die Frage schon ein Luxus war.
    Sie schluckte eine Handvoll Vitamine, gegen all den Wein, den sie
gebechert hatte, trank noch ein Glas Wasser und ging in dasWohnzimmer
zurück. Das Haus war immer noch unfassbar für sie – es war größer und
prächtiger als so manches Haus von ihren Profs. Im Jahr 1901 für irgendeinen Geschäftsmann erbaut, das Datum stand in Stein gemeißelt über
der Tür. Etwas protzig, aber das war damals so der Stil. Ihr Vater liebte das
Haus mehr, als er je zugeben würde. Gekauft hatte er’s 1980 ,
als es langsam schwierig wurde im Tal, als die Leute immer unsicherer wurden,
ob sie große

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