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Rost

Titel: Rost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Meyer
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Auf dem einen Schulterblatt hatte sie einen Leberfleck, und er beugte sich
vor und küsste ihn. Er wusste, dass der andere das nicht tun würde, deshalb. Er
wusste,sie bedeutete dem nicht dasselbe, sie bedeutete dem nicht so viel.
Es war egal. Sie war bei ihm zwar nicht genauso, aber das war jetzt egal, er
würde es sich aufschreiben, als Lehre für sein Leben. Halt die Klappe, scheiße,
sagte er sich.
    Dann kam er auf die Idee, sie hätte ihm wohl nur einen Gefallen tun
wollen, mehr nicht, es ist nur ein Gefallen, auf die alten Zeiten, nächstes Mal
bist du sie los. Ihm wurde kalt. Er stellte sich die Möglichkeiten alle vor und
fand dann, nein, aus Mitleid tat sie’s nicht, es hatte unterschiedliche Gründe,
das war für ihn in Ordnung. Aber jetzt musste er los, in einer Stunde würde er
vielleicht nervös oder auch wütend werden, und das sollte sie nicht sehen.
Sachte schlüpfte er hinter ihr weg und sah sich nach den Kleidern um, stand auf
und zog sich an.
    Die Kälte weckte sie, sie schlug die Augen auf.
    »Wo gehst du hin?«, fragte sie.
    »Weiß nicht«, sagte er. »Nach Haus.«
    »Ich fahr dich.« Sie stand auf, ganz nackt. Sie war so klein. »O
Gott, bin ich besoffen«, sagte sie. »Kein Wunder, dass ich dich verführen
wollte.« Und sie lächelte ihn an.
    Er war etwas verletzt von ihrem Spruch, aber er lächelte zurück und
wurde langsam wieder klar im Kopf, ja, besser würde das nicht werden, alte
Freunde, ab und zu von Vorteil, aber wäre es auch nur ein bisschen mehr, würd
sie ihn runterziehen und dort liegen lassen. Er war froh, dass es passiert war,
als Erinnerung daran, wie es sein sollte. Es sollte ja was bedeuten, das war
mehr als lauter Körperteile. Schließlich war das Leben lang, so würde er sich
wieder fühlen, nur halt nicht mit ihr. Er konnte nicht begreifen, warum ihm das
so natürlich vorkam, und er hoffte, dass es anhielt. So, das wusste er, sollte
er’s abschließen. Das Ende eines Buches seines Lebens. Nein, er wollte nicht
dran denken.
    »Ich bin froh, dass ich dich wiedersehen konnte.« Räuspernd zwang er
sich dazu, sich vorzubeugen und sie auf die Stirn zu küssen. Sie versuchte, ihn
zurückzuziehen auf die Couch.
    »Du könntest noch ein bisschen bleiben«, sagte sie. »Wir könnten
es die ganze Nacht tun.«
    »Ich muss jetzt nach Hause.«
    »Ich mein’s ernst.«
    »Ich weiß«, sagte er. »Ja, ich weiß.«
    Im Gehen, draußen, drehte er sich um und winkte und sah, dass sich
was in Isaacs Fenster regte. Er ging weiter. Schnell war er im Dunkeln, unter
Bäumen.

8 . Lee
    Sie lag auf der Couch und sah sich in dem Haus um, wo sie aufgewachsen
war und das sie seit fünf Jahren aus ihrem Gedächtnis getilgt hatte, Decken
voller Wasserflecken, Stellen an der Wand, wo die Tapete sich vom trockenen
Gips löste, Isaacs Bücher, überall hingeschmissen. Diese Bücher hatten, seit
sie weggegangen war, das Haus gefüllt. Ob alte Biologie-Schulbücher vom
Antiquariat, ob Hefte von National Geographic, Nature oder Popular Science , sie stapelten sich auf allen
Regalen, sogar auf dem Klavier ihrer Mutter, haufenweise Zeitschriften und
Bücher, kreuz und quer im Wohnzimmer. Es war ein großer Raum, und doch war kaum
genug Platz für den Rollstuhl ihres Vaters. Offensichtlich hatte Henry sich
entschlossen, das zu dulden. Doch vielleicht war’s ihm inzwischen auch egal.
Wenn jemand hier zum Fenster reinspähte, er würde glauben, dass das Haus einer
verrückten alten Frau gehörte, inklusive zwanzig Katzen.
    Dafür liebte sie ja ihren Bruder, einerseits, für seine Neugier,
ständig brachte er sich etwas bei, doch langsam machte er ihr Sorgen. Immer
isolierter und exzentrischer wurde er. Klar, dachte sie. Du warst es doch, die
ihn hier hat sitzenlassen. Nicht dass sie die Wahl gehabt hätte. Sie hatte immer
angenommen, sie sei noch gerade rechtzeitig entkommen, wäre dem Gefühl
entflohen, das sie ihre ganze Kindheit lang verfolgte, nämlich dass sie,
abgesehen von dem noch merkwürdigeren Bruder, ganz allein sei. Keine gute
Denkhaltung. Das hatte sich komplett geändert, als sie dann nach Yale kam,
nicht sofort, doch schnell genug war ihr Gefühl, allein zu sein, verschwunden,
heute würde sie’s als existenzielle Isolation beschreiben. Ihre ganze Kindheit
dort im Tal erschien ihr mittlerweile fern, so fern wie die Vergangenheit vonjemand anderem. Sie hatte einen Platz für sich gefunden, wo sie hingehörte.
Und es schien unmöglich, das jetzt aufzugeben und hierher zurückzukommen.
    Oben

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