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Rost

Titel: Rost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Meyer
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dich schier um ihn wickeln
möchtest, kaum erblickst du ihn, kannst du nicht aufhören, ihn anzufassen. Du
wärst unglücklich mit Poe, rief sie sich in Erinnerung. Mit Poe, der schnell in
Kneipenschlägereien reingeriet. Doch Poe wird nie das Tal verlassen, ganz egal,
wie sehr das Blut da runterrauscht und alles so empfindlich ist und Druck
verspüren möchte, selbst wenn sie jetzt daran dachte, presste sie die Beine
fest zusammen, Poe Poe Poe, sie drückte ihre Beine fester aneinander, dachte an
den flachen Bauch, die Muskeln seiner Brust, sie lauschte, ja, ihr Vater
schlief noch, ließ die Hand unter dem Rock verschwinden, nein, dachte sie, das
braucht’s nicht. Sie nahm die Hand weg.
    Und nahm den Ulysses . Hände sind zum
Umblättern da, fand sie. Leopold Bloom aß zu Mittag. Und sie wollte
einschlafen. Sie überlegte, ob sie einen Henry James dahatte. Nur dass auf
ihrem Beistelltisch ein altes Buch von früher lag, Das Sein
unddas Nichts. Sartre – das war doch genauso gut als Wahl, so gut
wie Valium. Was sollte sie jetzt nehmen? Äußerst schwer, das zu entscheiden,
wie so viel in ihrem Leben. Sie beschloss, bei Joyce zu bleiben und so weit zu
lesen, wie sie kam. Nach ein paar Seiten war sie glücklich eingeschlummert.

9 . Isaac
    Er hörte ein Geräusch und wachte auf; er hoffte, es sei Morgen,
aber draußen waren nur das nächtliche Blauschwarz und helle Sterne. Ist der
Fernseher an, dachte er, aber der Fernseher war’s nicht. Es kam von der
Veranda. Poe und Lee, die redeten. Du weißt, warum. Nach einer Weile sagte Poe,
dass er sie liebte, und sie erwiderte das, dann wurde es still, er spürte die
Haut in seinem Nacken kribbeln, so als wäre er betrunken. Alle gleich, dachte
er. Lügen dir glatt ins Gesicht.
    Sie waren auf der hinteren Veranda, wo sein Vater seine Arbeitskleidung
immer hingehängt hatte, damit der Staub nicht in das Haus kam. Er erinnerte
sich, wie er nach den Beinen seines Vaters griff, doch der, in schmutzigen
langen Unterhosen, schubste ihn beiseite, bis er angezogen war. Ist das
tatsächliche Erinnerung, fragte er sich. Oder nur eventuell geschehen.
    Eine Weile hörte er noch zu und hörte seine Schwester plötzlich
wimmern. Jeder ist sein eigener Mensch. Sogar deine Mutter, watet raus, um zu
versinken. Taschen voller Steine. Letztes Blinzeln, sah ihr ganzes Leben darin.
Ob sie sich da gut fühlte oder schlecht, frag ich mich.
    Er musste seine Kehle anfeuchten. Mach nur so weiter, dachte er.
Mach nur so weiter, dann bist du im Nu wieder am Fluss. Er stellte sich ans
offene Fenster in den kalten Wind, sein Kopf schwamm, und das Zimmer kam ihm
riesig vor, und wie er sich im Dunkeln umschaute, kam es ihm vor, als dehnten
sich die Wände ewig weit, ein Fiebertraum, er wusste noch, wie seine Mutter ihm
ein Handtuch aus dem Eisfach auf den Nacken legte. Unterrichtete die Viert- und
Fünftklässler, weil sie mit älteren nicht umgehen konnte. Der Alte erzählt
allen, dass sie reingeschubstwurde. Vertuschung, sagt er, Mordfall, unermittelt.
Kommst nicht in den Himmel, wenn du dich getötet hast.
    Selbst sie – hat nur an sich gedacht. Sie wurde müde und ist abgereist.
Wie einfach, großzügig zu sein, wenn’s nicht so wichtig ist, doch wenn es hart
auf hart kommt, wird man sehen, wie sich dann alle entscheiden. Richtig handeln
ist belanglos, wenn es leichtfällt. Sie, Poe, Lee, der Alte. So als wären sie
die Einzigen auf Erden. Während du immer was anderes erwartest. Ist doch deine
eigene Schuld, wenn du Erwartungen hast.
    Du bist es, der sie hat gehen lassen – hast gesehen, wie sie an dem
Tag die Einfahrt runterging, das Letzte, was du von ihr sahst. Vielleicht was
überhaupt wer von ihr sah. Vielleicht begegnete sie unterwegs noch wem. Das
wünschst du dir und wieder nicht. So glücklich hattest du sie lange nicht
gesehen. Gingst rauf in dein Zimmer, und dann sahst du sie verschwinden. Passte
irgendwie nicht, aber warum, keine Ahnung. Schöner Tag, sie ging spazieren. Und
zurück zu deinem Lesestoff. Time Magazine . Als meine
Mutter starb, las ich das Time Magazine . Wär ich ihr
doch nachgerannt, dachte er. Ja, warum denn – gab doch keinen Grund. Ein
schöner Tag für so einen Spaziergang. Was kein Mensch von einem weiß. Ich
wusste es nicht, dachte er. Na gut na gut na gut. Jetzt hör auf, dran zu
denken.
    Er stand lauschend in der Dunkelheit. Die Stimmen fingen wieder an,
sie kicherten, und die Verandatür ging auf und zu. Er sah sie händchenhaltend
in die Einfahrt treten,

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