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Rost

Titel: Rost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Meyer
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einundzwanzig, kurzes braunes Haar, so weich wie Kinderhaar, und
Akne hatte er am Hals und an den Schläfen.
    »Lange willst du aber nicht hier sitzen, oder«, sagte er.
    »Ich hab jetzt ausgetanzt«, erklärte Lee.
    »Ach komm.«
    »Ich wollte hier bei meinen Freunden sein.«
    Jetzt sah er Poe an. Dann erhob er ihre Hand, leicht.
    »Danke nein«, beharrte sie.
    Poe trat vor sie und baute sich vor dem Marine auf.
    »Und gleich kommt der Gatte ihr zu Hilfe, wie?«
    »Korrekt.«
    »Nur dass du nicht der Gatte bist.«
    »Das ist er wohl«, widersprach Lee.
    »Quatsch.«
    »Geh zurück zu deinen Freunden«, sagte Poe.
    »Wir gehen«, sagte Lee.
    Als der Marine den ersten Schritt auf Poe zu machte, wich der schon
zurück. Der andere kam gleich hinterher, bis er ins Stolpern kam und heftig
hinfiel. Eindeutig betrunken. Er fing an, irgendwas zu schreien, lag bloß da
und schrie herum. Und Poe entfernte sich im Rückwärtsgang. Lee und ihr Bruder
waren da schon draußen.
    Poe behielt, auch im Zurückweichen, den anderen im Blick, allmählich
merkten auch die Leute was, der Bursche hatte seine Orden komisch an der
blauen, frisch gebügelten Uniformjacke hängen. Er tat Poe auf einmal leid, steh
auf, dachte er, steh doch auf. Dann sah er etwas Seltsames, das eine Bein war
länger als das andere und lag verdreht da, Poe sah etwas Glänzendes darunter,
alle Wärme wich aus ihm, er starrte weiter auf das Bein, wo es die Socke nicht
bedeckte, es war Plastik, hellbraun, hatte einen Stahlbolzen statt Knöchel, Poe
konnte nicht aufhören zu starren, und in seinem Kopf war alles leicht, du
hättest diesen Jungen fast geschlagen, wurde ihm klar, früher hättest du ihn
wohl geschlagen, einen Augenblick lang dachte er, er würde ohnmächtig, und da
war eine kleine Lücke in der Menge, Poe schubste die Leute weg und drängte sich
zur Tür durch.
    Draußen parkte einer von der State Police, Poe lehnte sich kurz
an die Mauer, doch da saß schon jemand in Handschellen in dem Streifenwagen
hinten drin, der Polizist schrieb etwas auf. Gott, dachte er, was läuft da
gerade ab in deinem Leben, deine Fehler häufen sich. Er wunderte sich, dass ihm
das bisher nicht aufgefallen war. Und jetzt die Sache mit den Pennern im
Fabrikgebäude. Weg, er musste weg hier, aus der Stadt. Er hatte erst gedacht,
es wäre kein Problem, wenn er hier bliebe, doch das Gegenteil war der Fall,
wegzugehen hatten ihm schon andere geraten, aber er hatte nicht hören wollen.
Er erinnerte sich nicht, wo Lee geparkt hatte, er hatte nur ein Bier getrunken,
aber alles drehte sich. Ein Krankenwagen stand mit weit geöffneten Türen am
anderen Straßenende, innen war es hell, zwei Leute wurden grad behandelt. Er
sah Lee und Isaac, die auf ihn warteten, den Wagen schon im Leerlauf, und beim
Einsteigen schaute er nach, ein halbes Dutzend Männer aus der Bar stand
draußen, suchte ihn.
    »Na, du hast dir ja Zeit gelassen«, sagte Isaac.
    »Der Typ hatte ein falsches Bein.«
    »Du hast ihn aber nicht geboxt«, erkundigte sich Lee.
    »Ich habe ihn nicht angerührt«, betonte Poe. »Verdammt.«
    »Wie gut, dass wir noch einen trinken waren«, sagte Isaac.
    »Es tut mir leid«, sagte Lee. »Hätte nicht so lange mit ihm reden
sollen.«
    »Du bist nicht dran schuld.«
    »Ja, scheiße«, sagte Isaac. »Von wegen.«
    Isaac blieb für den Rest der Heimfahrt still. Als Lee den Wagen
parkte, stieg er aus und ging nach drinnen, ohne noch ein Wort zu sagen. Poe
und Lee sahen ihm nach, sahen sich an, dann wappnete sich Poe für ihren
Abschied. Ruhig zu Fuß nach Hause. Kopf klar kriegen, das brauchte er jetzt.
    »Willst du noch reinkommen, auf einen Drink oder so?«, fragte sie.
    Er zögerte lang. »Gut.«
    Sie drückte seinen Arm, sanft. »Übernachten kannst du aber
nicht.«
    »Geht klar.«
    Sie saßen auf der hinteren Veranda, auf der Couch, mit einer Decke
drüber, die Gesichter kalt, ansonsten warm, sie hörten einen Bach, der bergab
zu der Schlucht floss, wo er einen anderen Bach traf und danach den Fluss. Und
weiter, dachte er. Und weiter traf er dann auf den Ohio, dieser auf den
Mississippi und dann bis zum Golf von Mexiko und dem Atlantik, alles war
verbunden. Alles ist verbunden, dachte er. Und alles hat eine Bedeutung. Er
trank noch mehr Wein. Er war einfach betrunken.
    Es war warm unter der Decke, und sie hielten Händchen, er machte die
Augen zu und kam in dem Gefühl an. Wo das Nachbargrundstück anfing, war ein
dunkler Fleck, jetzt stand da Dickicht, und das leere Haus war vom

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