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Rost

Titel: Rost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Meyer
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sich zum Abschied küssen. Macht dir vielleicht nur was
aus, weil sie grad glücklich sind, dachte er. Doch er glaubte nicht daran. Poe
ging allein über den dunklen Rasen, hügelabwärts auf die Straße zu, Isaac sah
ihm nach und sah, wie komisch er beim Gehen in den Zehen wippte. Poe drehte
sich noch mal um und winkte Lee zu. Das ist alles, du bist kleinlich. Wütend,
weil sie glücklich sind. Dann dachte er, nein, damit hat es nichts zu tun. Es
liegt daran, was sie in ihrem Innern haben. Aber was aus dir geworden ist, ist
irgendwie am schlimmsten.
    Er tastete nach dem Lichtschalter, aber zu spät, in seiner Brust
war etwas lose Flatterndes, sein Herz schlug schneller, als er je erlebt hatte,
die Beine wurden weich, und er musste sich setzen. Da war etwas Warmes, so als
hätte er sich vollgepinkelt. Falsch verdrahtet. Tief holte er Luft, noch mal,
sein Herz schlug viel zu schnell und flatterte, um Blut zu pumpen. Wie der
Junge, der beim Fußballspiel tot umfiel. Hatte nicht einmal gebeichtet. Bitte,
lieber Gott. Er lehnte sich gegen die Wand, bekam nicht genug Luft und merkte
wie von ferne, dass ihm kalt und nass war. Als er seine Schwester rufen wollte,
schaffte er es nicht, dann ließ ihn das Gefühl auch wieder los. Es war ihm
peinlich.
    Du musst weg hier, fühlte er mehr, als er dachte. Rappelte sich auf
die Schlotterbeine, schaltete das Licht an und betrachtete sich, seinen dünnen
nackten Körper, fast nichts dran, keine Substanz. Er schlotterte noch immer,
wollte sich am liebsten wieder setzen, zwang sich aber, so lang stehen zu
bleiben, bis die Beine wieder Kraft verspürten. Er war klamm vor Schweiß, sonst
nichts. Auf, auf und los. Du. Musst. Hier. Weg. Er wischte sich mit einem Hemd
ab und schnitt ein Gesicht. Jetzt guck dich an – letztendlich denkst du, lieber
Gott, komm her und rette mich. Mit Beichte die Vergebung holen. Himmel, dachte
er. Es war ihm peinlich, obwohl keiner da war, vor dem irgendetwas hätte
peinlich sein können. Dann statte doch St. James einen Besuch ab. Lieber alter
Pater Anthony, moralischer Leitstern, Chorknabentätschler. Zehn Ave Maria, ja,
und einmal Blasen. Jerry Sowieso, der Junge aus Lees Jahrgang, hatte einen
Nervenzusammenbruch. Währenddessen läuft die halbe Stadt da weiter hin – weil
’s glaubt sich leichter, dass der kleine Jerry halt gelogen hat. Befummel du
ruhig unsre Söhne, unsren Glauben kannst du nicht erschüttern.
    Isaac war klar, er tat ihr unrecht, seine Schwester war kein
schlechter Mensch. Der Tod der Mutter hatte Lee vertrieben, gleich danach ging
sie zur Uni. Dass sie sich für ein ganz anderes Leben entschieden hatte,
glaubte er nicht, eigentlich nicht, nurhatte sich ein anderer Weg eröffnet,
und sie hatte irgendwann beschlossen, ihn auch einzuschlagen. Kannst du ihr
nicht vorwerfen. Du hast sie einmal dort besucht, New Haven, und gewusst, das war
das Richtige für sie. Für dich wär’s höchstwahrscheinlich auch das Richtige
gewesen, aber dafür ist es nun zu spät. Nein, dachte er, da spricht dein Stolz.
    Das meiste, was er brauchte, war im Rucksack, den er bei der Halle
liegen hatte. Oberste Priorität. Auch wenn’s ein Tatort war – na und? Er konnte
es nicht fassen, dass sie heute derart dumm gewesen waren, einfach so über die
Wiese zu spazieren. Wär doch leicht gewesen, erst die Lage auszukundschaften,
damit sie keiner sah. Doch nachher ist man immer schlauer. Hältst dich nicht
mal an die Regeln von der letzten Woche. Keine dummen Fehler mehr. Er suchte
sich die zweite Garnitur der Thermounterwäsche, zog sie an, darüber dicke
Cargohosen, ein dickes Flanellhemd, Wollpullover. Nimm dein Angelmesser mit, du
könntest es noch brauchen.
    Isaac knickte die Futteralschlaufe nach hinten, denn so konnte sie
innen am Bund sitzen, am Gürtel festgemacht. Er schaute sich im Spiegel an,
Messer am Gürtel, und er fand sich lächerlich. Geh runter, red mit deiner
Schwester. Nein, zu spät dafür. Es war zwar dumm, aber da ging wohl kein Weg
dran vorbei. Du wirst alleine sterben, dachte er. Das ist kein Kinderkram mehr.
    Dabei müsstest du nicht so fortgehen. Tust es aber jetzt. Und neulich,
wie du mit dem Wagen hoch nach Charleroi gefahren bist, über die 70 West und immer weiter, nur mal sehen, wie sich’s
anfühlt, fast den Tank leer, bis es dunkel war, und dann zurück nach Hause, wo
er auf dich wartete. Er saß auf der Veranda, wartete im Dunkeln auf dich. Du
bist doch erst zwanzig Jahre alt.
    »Ich war mit Terry Hart verabredet und habe es

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