Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Rost

Titel: Rost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Meyer
Vom Netzwerk:
verpasst.«
    »Du hättest ihn doch bitten können, dass er dich abholen kommt.«
    »Du weißt doch, dass ich das nicht mag.«
    »Na schön«, sagtest du. »Tut mir leid.«
    »Es ist mein Auto«, sagte er. »Das leihst du dir nicht noch mal aus,
es sei denn, ich weiß, wo du hinfährst und bis wann du wieder da bist.«
    Wusste ganz genau, dass er dich damit triezte – schließlich war das
Auto deine einzige Freiheit. Aber so ist er. Er hätte dir was leihen können,
damit du dir selbst ein Auto anschaffst, hat er aber nicht. Als du den Job
bekommen hattest, in der Carnegie-Bibliothek – zwei Stunden Bus, hin und zurück
–, wurde er plötzlich krank. Viermal die Woche Arztbesuch. Er wollte, dass du
bei ihm bleibst, zu Haus, nur wollte er’s nicht aussprechen. Das war dann seine
Art, es dir zu sagen. Du hast nachgegeben. Und ein Teil von dir war glücklich
nachzugeben. Wohl derselbe Teil, der dich zwei Jahre lang hier festgehalten
hat, in Wartestellung.
    Plötzlich war die Luft in seinem Zimmer viel zu dünn, es drängte ihn
hinaus, so schnell wie möglich, vorher sah er sich aber noch um, ein letztes
Mal, und zwang sich nachzudenken. Da, die Porzellanspardose, ein Geschenk von
seiner Mutter, bisher hatte er sie noch nicht aufgebrochen, sie sah wie ein
kleines Schulhaus aus und war seit Jahren voll, und jetzt zerbrach er sie an
der Kommodenkante, holte Dollars raus und Quarters, zählte alles,
zweiunddreißigfünfzig, Kleingeld ließ er auf dem Bett, durchwühlte seinen
Schreibtisch, falls er da noch irgendetwas mitnehmen musste,
Sozialversicherungskarte oder so, aber das letzte Mal hatte er sorgfältig
gepackt, da war nichts mehr. Das alles steckte – Geld, die Kladden und der Rest
– in seinem Militärrucksack, der unter einem Haufen Schrottmetall auf dieser
Wiese lag. Es sei denn, einer hätte ihn gefunden. Unwahrscheinlich. Warum sollten
sie die Wiese absuchen, das, was sie brauchten, war in dem Gebäude. Kurz
betrachtete er seine Mutter auf dem Foto überm Schreibtisch, doch das löste
keinerlei Gefühl aus. Weil sie einfach abgehauen ist, hast du erst Lee verloren
und jetzt auch noch Poe. Vielleicht ist das auch schon vor langer Zeit
passiert. So oder so, besser, du weißt Bescheid.
    Er griff nach der Ersatzschultasche, steckte eine Decke und ein Extrapaar
Socken hinein, für alle Fälle. Quatsch, für keinen Fall. Du musst den anderen
Rucksack holen. Einen letzten Prüfblick, dann ging er die Treppe runter, leise,
fand Lee schlafend auf der Couch, den Fuß in einem Loch der fadenscheinigen
Decke verheddert. Er betrachtete sie, während er die Stiefel zuschnürte.
Betrügt den Gatten, schläft schnell ein. Wie wundersam, dieses Gewissen. Schon
bei der Geburt gelöscht. Das sagst du alles zu dir selbst, dachte er.
    Jetzt schlug sie die Augen auf, benommen, unsicher, wer da war. Er,
an ihr vorbei, strebte zur Tür.
    Sie sagte: »Isaac? Wo gehst du hin?«
    »Nirgendwohin.«
    »Dann warte einen Augenblick.«
    »Ich habe dich und Poe gehört.«
    Sie sah verwirrt aus, und dann war sie etwas wacher, sah sich noch
mal seinen Rucksack an, den Mantel und die Mütze und die Wanderstiefel. Schnell
befreite sie sich von der Decke und stand auf. »Moment«, sagte sie. »Das ist
nicht so, wie es klang. Es ist im Grunde gar nichts. Eine alte Sache, aber
jetzt ist sie vorüber.«
    »Du hast ihm gesagt, dass du ihn liebst, Lee.«
    »Isaac.«
    »Ich glaube dir. Ich weiß, dass beides irgendwo in deinem Kopf
gleichzeitig wahr sein kann.«
    »Hör erst mal zu.«
    Sie machte einen weiteren Schritt in seine Richtung und stieß einen
Stapel alter Bücher um, der laut zu Boden polterte, und sie erschrak. Einen
Moment lang schien er sie ganz deutlich zu erblicken, ihr verwuscheltes Haar
und die Ringe unter ihren Augen, in dem alten, herrschaftlichen Wohnzimmer, das
jetzt so vollgemüllt war, so ganz anders als die Ordnung ihrer Mutter. Wie das
Haus buchstäblich auseinanderfiel, um Lee herum. Sie konnte mit nichts davon
umgehen. Das Einzige, was sie beherrschte, war das Fortgehen.
    »Wir kommen beide bald hier raus«, sagte sie. »Wir sind wirklich
nahe dran.«
    »Das ist jetzt nicht mehr wichtig.«
    Lee schaute verwirrt drein, dann begann in seinem Schlafzimmer der
Alte laut zu rufen. Isaac beachtete ihn gar nicht.
    »Sollten wir nicht nach ihm sehen?«
    »Nein, das macht er jede Nacht im Schlaf.«
    Sie nickte. Weil ihr, dachte er, nichts abverlangt wird. Und dann
war er wieder wütend.
    »Ich schwör dir, das wird alles bald in

Weitere Kostenlose Bücher