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Rost

Titel: Rost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Meyer
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Lichtung vor dem Bach ins Freie kommen. Und
der kleinste war für ihn. Er setzte sich und hörte auf zu denken.
    Zeit verging, er starrte nur, er war in Trance, sein Körper war
wie taub, er konnte ihn nicht mal mehr spüren, eine Stunde lang hatte er
mindestens nicht mehr gezuckt, nur seine Augen. Das war auch der Trick, den
Geist vom Körper trennen. Fühlte sich natürlich an, das hatte ihm sein Vater
beigebracht, guck jede x-beliebige Natursendung, dann weißt du, alle Tiere tun
das, anders kann man gar nicht länger stillsitzen, man muss komplett
verschmelzen. Alle Körperteile außer deinen Augen musst du schlafen legen. Aber
heutzutage musste das kein Mensch mehr machen. Du musst gar nicht Teil deiner
Umgebung werden. Du fährst nur zum Drive-Thru . Damit
stimmte was nicht. Selber konnte er McDonald’s-Hamburger nicht essen, schmeckte
die Chemie da drin heraus, sein Magen war empfindlich. Kein Problem, einen Berg
Wildfleisch zu verdrücken, eine Wachtel, ein Kaninchen, irgendwas, das in den
Wäldern lebte, alles, wovon ihm bekannt war, wo es herkam. Jedes Wildfleisch,
das war spürbar, gab dir irgendwas zurück. Nicht wie McDonald’s. Nicht dass die
ein Einzelfall waren. Ob Burger King, ob Wendy’s, alles ganz genauso schlecht.
Er kriegte davon Durchfall. Was wahrscheinlich an den Chemikalien lag. Er sah
erneut auf seine Armbanduhr, erst eine Minute vergangen. Das kommt von dem
vielen Denken, dachte er. Die Zeit vergeht nicht, wenn du denkst. Er sammelte
sich wieder, dachte an den Hirsch. Schlaf ein bisschen unter diesen Bäumen, wo
du jeden hörst, der nach dir kommt. Aber bald kriegst du Hunger, willst
vielleicht einen Schluck aus dem kühlen Bach trinken und musst dazu die kleine
Lichtung überqueren. Der Hirsch schnüffelte und drehte langsam seinen Kopf und
schnüffelte erneut gegen den Wind. Der stand immer noch günstig, wehte von den
Bäumen her und auf Poe zu. Der Hirsch konnte ihn dort nicht wittern.
    Warte mal, bis sie da rauskommen, um aus dem Bach zu trinken. Wieder
dachte er an Lee. Das wird schon, dachte er. Sie mag verheiratet sein, trotzdem
liebt sie mich. Er fragte sich, ob er sie wohl am Abend sehen würde. Musste
nicht so tragisch sein,ihr Ende. Auch wenn sie sich liebten, ihre Sterne
standen offenbar ungünstig. Sie tat nur, was eh das Beste war. Dann dachte er
an Isaac und an den toten Mann in der Fabrik. Ein Zittern überlief ihn, kein
guter Gedanke, und er schob ihn schnell beiseite. Harris hatte sich schon drum
gekümmert. Da hatte er großen Mist gebaut, und Harris hatte sich darum gekümmert.
    Da kam noch ein Auto auf der Straße näher und bog auf ihr Grundstück
ein. Einer von Moms Freunden. Sollte er mal hingehen und nachschauen? Die
beiden Stunden drangeben, die du schon dasitzt und dich mühst, damit der Wald
vergisst, dass du hier bist. Die Eichhörnchen, die Vögel, alle fressen wieder,
so als gäb’s dich gar nicht. Und dann ist auch Fräulein Weißschwänzchen nicht
mehr so auf der Hut. Sitz da wie ein Indianer und besiege sie durch Abwarten.
Wahrscheinlich haben sie ihr Lager hundert Meter von hier aufgeschlagen.
    Eine knappe halbe Stunde später rührte sich was oben an der Wiese.
Langsam drehte er den Körper in die Richtung, ohne das Gewehr zu heben. Dann
sah er, es war kein Hirsch. Ein Mensch – Bud Harris – tauchte auf der
Hügelkuppe auf, neben dem Trailer. Poe sah Sonnenlicht auf seiner Glatze.
Harris spähte überall herum. Gott, er würde ihn als Wilderer einbuchten. Erst
erwischt er mich gestern und dann gleich wieder heute. Plötzlich lief ihm
Schweiß die Achseln runter, Harris suchte jetzt die Wiese ab, Poe konnte
praktisch zusehen, wie das Gehirn des Mannes arbeitete; er entdeckte, wo die
Bäume trichterförmig Richtung Bach zusammenliefen, dann erspähte er das kleine
Dickicht und den Reisighaufen, von dem aus die kleine Lichtung gut im Blick
war. Diese Stelle war am besten, um das Wäldchen zu bejagen, und jetzt kam er
hügelabwärts, kam direkt auf Poe zu. Und obwohl Poe wusste, dass Harris ins
Dickicht nicht hineinsehen konnte, weil die Sonne auf seinem Gesicht stand, kam
er seinetwegen, eindeutig. Das war nicht wegen Wilderei. Er wäre nicht den
ganzen Weg gekommen, wenn es nur um Wilderei ginge. Und davon konnte er nichts
wissen. Isaac hatte mal wieder recht – BudHarris wartete nur auf den besten
Zeitpunkt und, Gott, keine Ahnung was sonst noch, Poe hatte kaum geschlafen,
konnte nicht klar denken. Harris wusste alles, dem konnte man nichts

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