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Rost

Titel: Rost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Meyer
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vormachen.
Lee würde nie wieder mit ihm reden, ihren kleinen Bruder so in Schwierigkeiten
zu bringen, dabei war Isaac der Letzte, der hier Schwierigkeiten brauchen
konnte, hatte sich im Fluss umbringen wollen wie die Mutter. Das Gewicht der
Flinte lastete auf ihm. Zweihundert Meter zwischen ihm und Harris, oder
hundertachtzig, er konnte nichts anderes mehr denken, hier gab’s viele Stellen
zum Abstützen, auf diese Entfernung war das eine vertikale Abweichung von etwa
fünfzehn Zentimetern. Das ist deine einzige Chance, deine letzte. Du oder ein
anderer, dass Harris eine Scheiß-Maschine war, wusste doch jeder. Er musterte
ihn und hielt sich lange bei diesem Gedanken auf. In seinen Eingeweiden saß ein
komisches Gefühl, das war die Angst, er dachte, hoffentlich geht’s schnell
vorbei. Als er die 30 .- 30 abgesetzt hatte, war Harris nur noch siebzig Schritte weg. Gott. Gott, du
Irrer, du bist echt ein wahnsinniger Irrer, denkst daran, hier einen
Polizeibeamten abzuknallen, den du kennst, seit du ein Kind warst. Als ob das
deine Probleme lösen würde.
    Schnell schob er die Flinte unter seinen Reisighaufen und kroch noch
ein Stückchen weiter, damit er dort, wo er rauskam, nicht mehr bei der Flinte
war.
    Chief Harris ließ ihn erst mal aufstehen.
    »Billy«, sagte Harris.
    »Tag, Chief Harris.«
    »Los, hol dein Gewehr und bring es rein, damit es nicht noch rostet.«
    Poe blickte ihn an.
    »Na los«, sagte der Chief. »Wir haben jetzt ganz andere Sorgen.«

2 . Isaac
    Er tastete sich an dem Bach entlang, der Neumond, dachte er,
die Nacht war richtig dunkel. Bald schrumpfte die Schlucht zu einem flachen
Flussbett, und er war auf dem Gelände des Stahlwerks südlich der Stadt. Er
wandte sich nach Norden, längs den schmalen leeren Bauten, jeder war
vierhundert Meter lang und zwanzig Stockwerke hoch, ging vorbei an den
verbleibenden vier Hochöfen und den Maschinenhäusern, die rostschwarzen Öfen
überragten immer noch die hohen Bauten, Hunderte riesiger Rohre wanden sich
wild umeinander in verwickelten Verschlingungen. Schlackenwaggons standen zu Dutzenden
noch auf den Gleisen. Isaac kam unter dem Erzkran durch und passierte I-Träger
und T-Träger und andere Bauteile in hohen Stapeln. Bei der Demontage war das
Geld wohl ausgegangen. Keiner wollte eine alte Stahlfabrik erwerben.
Haftungstechnisch zu gefährlich.
    Es war dunkel, und es ging ihm gut. Er folgte den Bahngleisen, weg
von der Fabrik, vorbei an seiner Stadt, an seiner alten Schule, an der Straße,
die zu Poe führte. Das alles war schnell außer Sicht. Das Gleisbett war eng,
dunkel und gewunden, in die Hügelflanke eingeschnitten, dichter Wald auf beiden
Seiten, und das Echo seiner Schritte schien sehr weit zu tragen. Jetzt beginnt
der Kleine seine Reise wirklich. So allein wie als er auf die Welt kam. In der
totesten Stunde der Nacht – da sind die Tageswesen noch im Schlaf, die Nachtwesen
haben sich hingelegt. Der Kleine unterwegs, zu Fuß. Ziel Kalifornien. Die Wärme
seiner eigenen Wüste.
    In den Wäldern an der Bahnstrecke gab’s ein paar Pennerlager, und er
hielt nach Lagerfeuern Ausschau. Ja, der Kleine wird esschaffen, dachte er.
König der Schlangen, Pennerherzog. Hoch am Himmel über ihm zischte ein Licht
entlang. Ein Satellit. Genosse der arabischen Händler, der Astronauten. Alles
Wanderer.
    Der Himmel wurde ganz allmählich weiter, so ein blasses graues
Leuchten, und die paar Minuten, eh die Sonne richtig aufging, dachte er: in
etwa jetzt, und kurz danach vernahm er ein vereinzeltes Tschilpen und dann ein
zweites, wenige Sekunden später raschelten die Büsche und die Wälder vor lauter
Bewegung, da erklangen Vogelrufe, Flügelflattern, von Tangaren und Kernbeißern
bis hin zu Pirolen. Alle mit derselben inneren Uhr. Sie leben nach denselben
Regeln, die sich niemals ändern. Anders als der Kleine. Der macht seine eigene
Sonne. Und beschließt, dass er die Nacht vorzieht.
    Das andere Flussufer bestrahlte hell die Sonne, während, wie es
schien, auf seiner Seite alles dunkler wurde. Vor sich konnte er den hohen
Schlot neben dem baufälligen Wasserturm der Eisenbahnwaggonfabrik erkennen.
Langsam wurde er nervös. Nein, dachte er, der Kleine liebt doch jede Art von
Prüfung. Schleudert seinen scharfen Geist jedem entgegen, der ihm was von »Du
sollst nicht« erzählen will. Und er beschließt, sich seinen Rucksack, seine
ganzen Sachen jetzt zurückzuholen, weil er es so will. Nur dass er sich diesmal
von hinten der Fabrik annähert.
    Isaac

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