Rot wie eine Braut: Roman (German Edition)
schließt, sieht Saba jene zierliche Gestalt, die sie so gut kennt. Sie sieht auch den hochgewachsenen Mann mit dem Koffer in der Hand neben ihr, und sie begreift alles. Ihr erster Gedanke gilt Meliha: »Arme Mama, für dich scheint der Kummer niemals enden zu wollen.« Aber gleich darauf denkt sie an das zerstörte Leben ihrer Schwester.
Sie legt die Schürze ab, die sie über dem schwarzen Rock trägt, und begibt sich eilig auf den Weg zu Esmas Haus.
Das Tor steht noch offen. Ohne zu rufen tritt sie ein. Vom Hof her hört sie Stimmen, leise Stimmen, die von Schluchzen und Klagen unterbrochen werden.
Auf den drei Stufen zur Waschküche sieht sie die Zöpfchen der Nichten. Bubi hat den Kopf in Delfinas Schoß gelegt. Delfina streichelt ihr übers Haar und sagt: »Mama kommt zurück, du wirst sehen, Mama kommt zurück. Mama hat uns zu lieb, als dass sie uns hier allein lässt. Du wirst sehen, morgen kommt sie zurück. Mama nimmt uns mit.«
Aber ihre Mutter kommt nicht zurück. Weil sie sie lieb hat, so lieb, dass sie sie nicht mit sich nimmt.
Am Morgen nachdem Esma verstoßen wurde, eilt Bedena zu Sabas Haus. Man sieht, dass sie in Sorge ist. Während Saba Kaffee kocht, fragt die Schwester sie, ob sie von dem Unglück gehört hat, das über ihre Mutter hereingebrochen ist.
»Solange sie die Augen nicht endgültig schließt, wird sie keinen Frieden finden«, sagt Bedena.
»Was willst du machen?«, antwortet Saba kurz angebunden. »Jeder hat sein Päckchen zu tragen.«
»Ja, ich weiß, aber schöne Reden helfen hier nicht weiter«, entgegnet Bedena. »Bist du dir darüber im Klaren, wie sehr unsere Mutter unter dieser Tragödie zu leiden hat? Hier geht es schließlich nicht um jemanden, der stürzt und sich die Knochen bricht, oder stirbt, weil Allah es so entschieden hat. Hier geht es um die Ehre. Der gute Name unserer Familie gehört für immer der Vergangenheit an. Ach, dass ich das erleben muss, meine armen Töchter …«
»Esmas arme Töchter. Deine werden schon nicht darunter zu leiden haben, dass die Tante von ihrem Mann verstoßen wurde.«
»In welcher Welt lebst du? Natürlich werden sie darunter leiden. Jeder, der ein Auge auf sie wirft, wird es sich zweimal überlegen, ob er eine von ihnen zur Frau nimmt. Nein, werden die Mütter sagen, wir sind doch nicht verrückt und holen uns Mädchen ins Haus, deren Familie in Angelegenheiten der Kurvëria verwickelt ist. Die Schwester von der da, die ihre Tage damit verbrachte, sich auf dem Hof zu kämmen, und sich nachts wer weiß wo herumtrieb, soll die Schwiegermutter meines Sohnes werden? Die Nichte dieser verstoßenen Kurva soll die Mutter meiner Enkel werden? So sieht’s aus, meine Töchter werden für immer Jungfern bleiben, für immer!«
Saba hat keine Kraft, diesem Redeschwall etwas entgegenzusetzen. Wie immer glaubt Bedena, im Mittelpunkt des Universums zu stehen. Wenn sie bedenkt, dass sie demselben Schoß entsprungen sind, dieselbe Milch getrunken haben. Es stimmt schon, dass jede Rose auch Dornen hervorbringt. Ihre Schwester wird sich nie verändern. Die Geschichte mit Tana, Bedenas Nachbarin, ist erst wenige Tage her.
In Bedenas Nachbarschaft wohnt ein Kulak . Sie sagt es verächtlich, als wenn das Wort Kulak eine unheilbare, widerwärtige Krankheit bezeichnen würde. Wenn sie es ausspricht, schließt sie die Augen, ihr Mund verzieht sich wie bei jemandem, der vor etwas Ekel oder Abscheu verspürt.
Armer Nachbar, er hat all seinen Besitz verloren. Aber wie heißt es so schön: Manch einer gräbt sich selbst sein Grab.
Eines Tages führt die Frau von diesem Kulaken den Esel auf die Weide. Sie zerrt an seinem Strick, aber der Esel rührt sich nicht. Sie flucht, doch das Tier bleibt störrisch.
Bedena, die die Verwünschungen gehört hat, eilt hinaus, um zu sehen, was vor sich geht.
Als sie nach dem Strick greift, um Tana zu helfen, erbleicht sie. Um den rötlich braunen Hals des Esels hängen lauter Orden, die Tanas Mann, ein ehemaliger Partisan, unmittelbar nach dem Krieg, bevor er zum Kulaken wurde, von der Partei bekommen hat. Andere Orden wurden den Söhnen für ihre freiwillige Arbeit verliehen, mit der sie dazu beitrugen, »die Berge und Wälder in fruchtbares, den Tälern gleiches Land zu verwandeln«, wie der erste Vorsitzende des Zentralkomitees der Partei, Enver Hoxha, sagte.
Vielleicht durch Bedenas wütende Blicke aufgeschreckt setzt sich der geschmückte Esel in Bewegung.
»Bist du vollkommen verrückt? Parteiorden am Esel?«,
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