Rot wie eine Braut: Roman (German Edition)
sich um etwas sehr Wichtiges handelt. Wenn sie jemanden bräuchte, der ihr den Garten umgräbt, Obst erntet oder Wasser vom Brunnen holt, würde sie nicht solche Worte wählen.
Meliha seufzt und deutet in Richtung Friedhof. »Die dort unten hören den Regen, der die Erde tränkt, und auch den Wind in den Zypressen, aber mehr vermutlich nicht. Schon solange sie noch auf der Erde sind, fällt es den Männern schwer, Frauenangelegenheiten und Gefühle zu verstehen, ganz zu schweigen von der Zeit, da sie unter der Erde liegen.«
Stille. Kurz darauf fährt Meliha fort:
»In all den Jahren bin ich jedes Mal, sobald es Neuigkeiten gab, hinabgestiegen, um zu erzählen. Sie haben ein Recht zu erfahren und wir die Pflicht zu sagen, was passiert. So bleiben wir verbunden, und eines Tages, wenn wir uns alle wiedertreffen, wird es sein, als ob wir uns erst gestern getrennt hätten. So wird der Tod begreifen, dass das, was er sich genommen hat, weil er es für sich beanspruchte, ihm niemals ganz gehören wird.«
Saba hört zu. Sie weiß bereits, worauf die Mutter hinauswill.
»Saba, meine Tochter, nun bist du an der Reihe. Frag mich nicht, warum gerade du. Lächle nur. Du wirst sagen: Und was soll ich erzählen?«
Saba schweigt noch immer. Sie fragt nicht, wie sie es machen soll. Das sind Dinge, nach denen man nicht fragt. Sie geschehen einfach.
Mutter und Tochter trinken Kaffee. Sie drehen die Tassen nicht herum, um im Kaffeesatz zu lesen. Heute interessiert sich keine von beiden für die Zukunft.
Schweigend sehen sie ins Tal hinab. Bis die Dunkelheit alles umhüllt, die Lebenden und die Toten.
Von ihrem Sessel aus sieht Meliha Saba am nächsten Morgen den Pfad hinab zum Friedhof gehen. Dann gibt sie sich ganz der Empfindung von etwas hin, das niemals vergehen wird. Etwas, das auch ohne sie fortbesteht.
Saba hat dagegen ganz andere Empfindungen. Die Toten über alle Familienangelegenheiten zu unterrichten, war immer Aufgabe ihrer Mutter gewesen. Der Wechsel beunruhigt sie. Derartige Veränderungen sind immer beunruhigend.
Zuerst reinigt sie die Gräber von dem trockenen Laub, das der Wind hergeweht hat. Nichts ahnend glänzt der Marmor im Herbstlicht.
Saba weiß nicht, wo sie sich hinsetzen soll. Sie liegen alle in einer Reihe: Sultana, der Vater, die Brüder und die Schwägerin. Sie setzt sich in die Mitte, an eine Stelle, von der aus sie alle gut sieht. Die Augen auf den Fotografien folgen ihr. Sie darf nicht ihr Lächeln sehen, es würde sie verwirren. Ihr Lächeln ist nichts als eine Herausforderung. Die Herausforderung jener, die gegangen sind und nun ruhig auf die Ankunft der anderen warten. Als Teil des einzig möglichen Schicksals.
Aber sie ist aus einem anderen Grund hier. Ihre Schwester Esma ist von ihrem Mann verstoßen worden. Solche Dinge müssen vor der Familie zur Sprache kommen. Sie lassen sich nicht lange verheimlichen. Früher oder später kommen sie ohnehin ans Licht.
Saba ist sich nicht ganz sicher. Muss sie nur von der Verstoßung erzählen oder auch Einzelheiten zur Sprache bringen? Etwa die Sache mit dem Brief, in dem behauptet wird, dass Esma in Angelegenheiten der Kurvëria verwickelt sei. Obwohl sie genau weiß, dass es nicht stimmt, bereitet ihr allein das Wort Unbehagen. Und wenn es ihr schon als Frau, noch dazu als lebender, Unbehagen bereitet, wie wird es dann erst auf den Vater und die toten Brüder wirken. Eine Frau aus ihrer Familie als Kurva verstoßen? Sie würden dort unten keinen Frieden mehr finden, und das will Saba nicht.
Sie beschließt, den Brief zu verschweigen. Sie können froh sein, es überhaupt zu erfahren, in ihrem Zustand sind Einzelheiten nichts als Luxus. Die Mitglieder ihrer Familie sind bescheiden, sie geben sich mit dem Wesentlichen zufrieden. Und in diesem Fall bedeutet das Wesentliche, dass Esma verstoßen wurde. Nicht einmal das. In Sabas Augen ist Esmas herzzerreißender Schmerz das Wichtigste an der Geschichte. Das sollte allen einleuchten: den Lebenden wie den Toten.
Ihre Stimme ist zunächst unsicher. Wie können Verse, so schlicht wie das Wasser, vom Schmerz ihrer Schwester erzählen? Aber je weiter sie fortfährt, desto sicherer wird sie.
Zurück bleibt nur ihr blinder Schmerz,
der stets aufs Neue erwacht.
Zurück bleibt zuletzt ihr bangendes Herz,
allein und in kalter Nacht.
Am Ende hat Saba ein gutes Gefühl. Sie fühlt sich an ihrem Platz. Von diesem Tag an bis zu ihrem Tod wird sie es sein, die den Toten mitteilt, was unter den Lebenden geschieht.
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