Rot wie eine Braut: Roman (German Edition)
Schokoladentäfelchen geblieben sind. Das Einzige, was noch an seinem Platz steht, ist die Zuckerdose, die sie zusammen mit dem Kaffee unterm Bett aufbewahrt. Sie lässt die Kinder ihre Händchen öffnen, dann nimmt sie einen Löffel mit Zucker und streut ihn darauf.
»Und jetzt leckt«, sagt sie, »es schmeckt genauso wie Bonbons.«
Die Kinder lecken, oft nur, um den Zucker loszuwerden, der in der geschlossenen Faust schnell zu einer klebrigen Masse werden würde.
Saba geht zu Meliha, um ihr zu sagen, dass sie wegen Omers Krankheit das Dorf für immer verlassen muss.
»Nein«, sagt die alte Mutter, »das darfst du nicht, meine Tochter, ich verbiete es dir. Solange ich lebe, wirst du diesen alten Säufer, der deine Schwester auf dem Gewissen hat, nicht heiraten. Er bringt jungen Wöchnerinnen Unglück. Niemals werde ich dich ihm zur Frau geben …«
»Wenn es so wäre, müsste ich längst tot sein …«, lacht Saba.
Gleich darauf verwechselt die Mutter sie mit Esma.
»So zurechtgemacht kannst du nicht auf die Straße, Esmaja«, sagt sie, »nicht so, die Leute werden über dich reden. Du bist verheiratet, und dein Mann ist weit weg, du darfst dich nicht so auffällig kleiden, der Neid löst die Zungen.«
Bisweilen sagt die alte Mutter das Richtige, wenn auch um Jahre zu spät. Vielleicht war sie früher zu sehr mit ihren Toten beschäftigt; jetzt sind es die Lebenden, die sie nicht mehr brauchen.
Dreiundzwanzig
Meliha, die große Mutter, stirbt wenige Tage bevor Saba das Dorf verlässt. Als habe sie gespürt, dass es ohne diese Tochter hart sein würde, auf das endgültige Erlöschen ihres Lebenslichts zu warten. Sie finden sie im Sessel, in derselben Haltung wie immer, mit heiterem Gesicht und geöffneten Augen. Der Blick ist aufs Tal gerichtet, dorthin, wo der Ehemann und die über alles geliebten Söhne liegen, die sie eigenhändig begraben hat. Endlich wird sie zu ihnen gelangen, sie hat schon so lange gewartet. Dieses Leben hat sie ermüdet, in ihrem Alter hat sie das Recht, sich nach einem anderen zu sehnen.
Während Saba die Vorbereitungen für den ewigen Schlaf der Mutter trifft, duldet sie keine der Frauen aus der Familie neben sich. Sie schließt sich im Zimmer ein. Sie spricht die ganze Zeit mit ihr, sie erzählt der Mutter viele Dinge, die sie, als sie noch lebte, nicht zu hören bekam. Sie legt sie auf das Bett und zieht ihr langsam die schwarzen Kleider aus, die sie seit jenem fernen, tief verschneiten Nachmittag trug.
Dieser Haufen Knochen auf dem Bett ist die Frau, die ihr das Leben geschenkt hat. Ein Schicksal in Gestalt eines von Adern und Falten überzogenen Körpers. Ein sanftes Lächeln, geschlossene Lider und die weiße Brust. Eine welke Brust, die sich eindringlich in ihrer Farbe offenbart, der Farbe der Milch.
Sie wäscht sie mit einem weichen, mit Blütenwasser getränkten Flanelltuch. Aus dem wenigen verbliebenen Haar flicht sie zwei Zöpfe. Sie öffnet die Truhe, jene, die nie jemand gewagt hat zu öffnen. Sie zieht das hervor, was aus Melihas Leben zurückgeblieben ist. Aber sie hat keine Zeit, Stück um Stück dem Pfad der Erinnerungen zu folgen, die sich überlagern und oft in Sackgassen münden. Sie wird es ein andermal nachholen, in Ruhe. Jetzt schüttelt sie ein rotes Kleid auf, das weder sie noch Meliha zur Hochzeit getragen haben. Es ist Sultanas Kleid. Man hatte sie nicht im Brautkleid bestatten können, in dieser Gegend ist das nur bei den noch nicht verheirateten Frauen gestattet. Saba tut etwas Merkwürdiges, etwas, das man noch nie zuvor gesehen hat. Sie nimmt das rote Kleid und legt es, ohne lange darüber nachzudenken, der Mutter an. Das Gesicht bleibt unbedeckt, sie muss ihr Antlitz nicht verhüllen. Sie und der Tod sind gute Bekannte, ihre Wege haben sich oft gekreuzt, auch wenn diesmal alles anders ist.
Als Saba alle Vorbereitungen getroffen hat, setzt sie sich neben Meliha. Lange verharrt sie in Schweigen. Dann erhebt sie sich, umschließt diesen winzigen, rotgekleideten Körper in einer zärtlichen Umarmung und sagt:
»Wer weiß, wann wir uns wiedertreffen.«
Sie verlässt das Zimmer, aber zuvor wendet sie sich noch einmal um und betrachtet sie lange. »Meliha ist schön«, ist ihr letzter Gedanke. »Meine Mutter hat einen schönen Tod gehabt!«
Wenige Tage später betritt Saba mit einer großen Holztruhe ihr Schlafzimmer. Sie macht sich nun an zwei Truhen zu schaffen. Zuerst muss sie ihre eigene ausräumen. Sie wird die in die Stadt mitnehmen, die
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