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Rot wie eine Braut: Roman (German Edition)

Rot wie eine Braut: Roman (German Edition)

Titel: Rot wie eine Braut: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anilda Ibrahimi
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nicht wie Onkel Endri. Er hatte in dieser Sprache gelebt. Aber Mama versuchte es dennoch. Wer weiß, dachte sie, die menschliche Seele birgt viele Geheimnisse, vielleicht genügt ein Wort, ein Satz seines Dichters …
    » Gewöhnlich ist es so / Wer immer zur Welt kommt, erfährt an sich Liebe, – / … «, rezitierte Mama auf Russisch, in der Hoffnung, der Onkel würde erwachen. Aber nichts.
    »Du bist verrückt«, schrie Großvater sie an. »Er ist vollkommen am Ende wegen einer russischen Frau, und du liest ihm russische Liebesgedichte vor.«
    »Es ist die Sprache seiner Liebe«, verteidigte sich Mama. »Außerdem ist es sein Lieblingsdichter. Aber schon gut, schon gut«, fuhr sie fort, »ich werde ihm ein anderes Gedicht vorlesen, in dem es nicht um Liebe geht, da ist ja schon eins: Und wird einst / am letzten / von allen Tagen / der Planet / vom Chaos / wieder abgeräumt … «
    Wieder nichts, der Onkel reagierte nicht einmal auf dieses der Brooklyn-Brücke gewidmete Gedicht.
    Eines Tages war Mama mit einem anderen Buch gekommen, eine Übersetzung ins Albanische. Von Bertold Brecht. Wochenlang hatte sie geredet und geredet, Geschichten, Märchen, Filmstorys und Anekdoten erzählt. Sie wusste nicht mehr, was sie machen sollte, deshalb las sie Gedichte vor.
    Es geschah an einem Tag, an dem Mama kein Buch dabei hatte. Sie saß bloß auf der Bettkante. Er sah sie an und begann zu weinen.
    Mit der ganzen ihm noch verbliebenen Kraft.
    Er erzählte viel von seiner Frau Inessa. Wie schön sie war, wie sanft, und wie sehr sie sich liebten. Er erzählte von dem Kind, das Saša hieß, und das er vermutlich nie wiedersehen würde.
    Eine Woche vor seiner Abreise hatte man ihn in die Botschaft bestellt, um ihm mitzuteilen, dass seine Aufenthaltserlaubnis auf sowjetischem Boden abgelaufen sei. Er müsse zurück in die Heimat.
    »Und meine Frau? Mein Sohn?« Er war fassungslos. »Mein Leben spielt hier, ich will nicht zurück«, hatte er in einem Ton geantwortet, der keinen Spielraum für Diskussionen ließ.
    Sie erklärten ihm, dass das, was er wollte, wenig Bedeutung habe. Was in diesem historischen Augenblick für alle zählte, war der Wille der Partei und desjenigen, der sie lenkte: Enver Hoxha.
    »Und wenn ich für alle sage, meine ich auch für alle. Haben wir uns verstanden?«, fügte der Botschafter hinzu. »Wir stehen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, wir haben uns der großen Sowjetunion verweigert, verstehst du, Junge? Wir sind nicht hier, um uns den Kopf darüber zu zerbrechen, was ihr mit den hübschen Russinnen machen sollt, die ihr während des Studiums aufgerissen habt. Habt ihr euch gut amüsiert? Schön für euch, schön für alle, aber jetzt ist Schluss mit den Spielen, jetzt geht’s zurück in die Heimat, um zurückzuzahlen, was ihr den Staat gekostet habt …«
    Amüsiert? So wie Endri hatten viele andere eine Familie gegründet, hatten Kinder, die sie aufwachsen sehen wollten.
    »Auf, Jungs«, beendete der Botschafter die Unterredung, »das geht vorbei, ihr seid noch jung, ihr werdet auch bei uns zu Hause gute Ehefrauen finden. Habt ihr vergessen, wie hübsch unsere Mädels sind?«
    Endri war verzweifelt als er am Abend nach Hause kam. Er sah Inessa an, die Saša wiegte, und wurde schier verrückt bei dem Gedanken, weit fort von ihnen zu sein, nicht mehr an dem teilzuhaben, was nunmehr sein Leben war. Nachts aufzuwachen und auf dem Bett neben Inessa zu warten, bis Saša fertig getrunken hatte; das große, weiche Handtuch mit den gelben Gänsen in der Hand zu halten und von der Tür aus zuzusehen, wie Inessa den Kleinen badete. Er sah sie planschen und lachen, dann reichte er Inessa vorsichtig das Handtuch, und sie wickelte Saša darin ein wie ein Bündel. Eines Tages würde er mit Saša zum Spielen hinaus in den Schnee gehen, dachte er, er würde ihm russische Märchen vorlesen und ihm andere Geschichten aus einem fernen Land erzählen, das man auf der Landkarte kaum sah, das aber großen Raum im Herzen desjenigen einnahm, der es verlassen hatte.
    Er wusste, dass seine Angehörigen in irgendeinem Umerziehungslager enden würden, wenn er dem Befehl nicht nachkam, es schmerzte ihn, aber es stand zu viel auf dem Spiel. Saša war seine Zukunft. Eltern vor die Wahl zu stellen, ob der eigene Vater oder das Kind geopfert werden soll, ist grauenhaft, aber, dachte Onkel Endri, die Entscheidung ließ keinen Zweifel zu: Man rettet das Kind. So würde zumindest er es machen.
    Am nächsten Morgen ging er erneut in

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