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Rot wie eine Braut: Roman (German Edition)

Rot wie eine Braut: Roman (German Edition)

Titel: Rot wie eine Braut: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anilda Ibrahimi
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nicht nach Belieben wählen. London oder Paris, zum Beispiel waren kapitalistische Hauptstädte. Aber die einzige nicht kapitalistische Hauptstadt, die mir einfiel, war Tirana.
    Tante Lola lebte in Tirana. Sie war hingezogen, um Medizin zu studieren, dann war sie dort geblieben, in der Hauptstadt. Zu Beginn der Sommerferien lud sie mich immer eine Woche zu sich nach Hause ein. Sie lebte in Neu-Tirana, direkt neben dem »Block«, dem Regierungsviertel, das kein Albaner betreten durfte. Ihre Tochter Greta atmete nicht nur Großstadtluft (die Bewohner von Tirana behaupteten, dass die Luft dort anders sei als anderswo in Albanien), sie atmete auch dieselbe Luft wie die Leute von der Regierung.
    Nach einer Woche Hauptstadt nahm ich Greta mit nach Vlora, den ganzen Sommer über. Zusammen mit der Cousine kam auch der gesamte »Block«. Sonst hätte sie keinen Fuß hierhergesetzt. Aber während sie in Vlora drei Monate lang die Strandprinzessin war, war ich in Tirana eine Woche lang nur Dreck.
    »Hört mal«, sagte Greta zu ihren Freundinnen Leda, Mirela, Moza und Ortenzia, »meine Cousine Dora ist gekommen, die aus der Provinz! Das ist Dora, ja, sie lebt in der Provinz, ich hab euch von ihr erzählt, oder?«
    Wenn wir ins Café Flora gingen, um Kompekai zu essen, oder wenn wir über Tiranas größten Boulevard schlenderten, wiederholte sie ein ums andere Mal, dass Vlora eine Provinzstadt und ich nichts als eine Provinzlerin sei. Zeigte ein Junge Interesse an mir, hatte Greta nichts Eiligeres zu tun, als ihn eindringlich zu warnen, dass ich aus der Provinz stamme, und um dem Ganzen mehr Nachdruck zu verleihen, benutzte sie auch das Wort »Dorf«.
    Vlora wurde schlagartig zu einem entlegenen Dorf, und ich konnte froh sein, dass meine Füße ein paar Tage lang den Asphalt von Tirana streifen durften.
    Greta war eine zweifache Cousine von mir, aber einfach hätte mir durchaus genügt. Sie war die Tochter einer Schwester meines Vaters sowie eines Bruders meiner Mutter. In den Augen meiner Mutter waren solche Dinge zu vermeiden. Wenn zwei Familien durch mehrere Ehen miteinander verbandelt sind, so ist einem alten Aberglauben zufolge nur eine Ehe dazu bestimmt, auf Dauer zu halten. Mama hatte auf alle erdenklichen Arten versucht, Onkel Endri davon abzubringen, aber er hatte darauf bestanden, Tanta Lola zu heiraten. Angesichts seiner dramatischen Vergangenheit hörte niemand auf Mama: Die Familie hatte beinahe schon alle Hoffnung aufgegeben, ihn verheiratet zu sehen.
    Onkel Endri hatte Tante Lola auf dem Hochzeitsfest meiner Eltern kennengelernt. Tante Lola studierte damals Medizin in der Hauptstadt. Auch Onkel Endri lebte in Tirana, und einige Tage später kam er sie besuchen. Nach ein paar Monaten waren sie bereits verheiratet. Greta und ich kamen fast gleichzeitig auf die Welt, auch wenn wir ganz und gar verschieden sind.
    Mitte der Fünfzigerjahre war Onkel Endri in die Sowjetunion gegangen, um an der Žukovskij-Universität Raumfahrttechnik zu studieren. Mama behauptet, er habe sich ein schönes Leben gemacht, aber ich glaube nicht, dass das Leben in der Sowjetunion in jenen Jahren so schön war, wie meine Mutter gerne erzählt. In einem Punkt hatte sie jedoch recht: Moskau war Onkel Endri wirklich ans Herz gewachsen.
    Während des zweiten Studienjahres lernte Onkel Endri eine schöne Moskauerin mit kastanienfarbenem Haar und heller Haut kennen: Inessa. Mama kannte sie von einem Foto, das Onkel Endri geschickt hatte: weißer Pelzmantel und zwei Rehaugen, die unter einer Fellkappe ins Objektiv lächeln.
    »Es ist bestimmt auf dem Roten Platz aufgenommen«, sagte Mama, auch wenn es nirgendwo stand und sie nie in Moskau gewesen war.
    »Woher willst du das wissen?«, widersprach Großvater.
    »Welchen Platz gibt es sonst in Moskau«, erwiderte meine Mutter, »für ein schönes Foto von der Verlobten, das man den Angehörigen schicken kann, die in einem der Länder des sozialistischen Blocks leben?«
    Ich war sprachlos, als Mama mir erzählte, dass sie zweimal im Jahr mit Onkel Endri in Moskau telefoniert hatte. Wir hatten Telefon zu Hause, wir benutzten es, um die Tanten in Vlora und manchmal auch in Tirana anzurufen, aber es war immer Albanien. Es schien mir unglaublich, auch mit dem Rest der Welt sprechen zu können.
    Von Moskau nach Vlora und von Vlora nach Moskau. Ich stellte mir die Stimme vor, die von einem Ende des Planeten bis zum anderen sauste. Eine Stimme, die Meere, Gebirge, Flüsse, Steppen durchquerte und heil ankam.

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