Rot wie eine Braut: Roman (German Edition)
die Botschaft.
Der Botschafter sah ihn lange an: Begriff dieser Junge nicht, dass seine Familie in einem abgelegenen Bergwerk oder irgendwo auf dem Land enden und den Tag verfluchen würde, an dem sie ihm die Erlaubnis gab, in einem fremden Land zu studieren? Ja, Endri verstand das, aber Saša würde nie verstehen, wie einen der eigene Vater gleich nach der Geburt verlassen konnte.
Am Ende fanden sie eine Lösung: Inessa und Saša sollten mit nach Albanien. Natürlich, warum waren sie nicht gleich darauf gekommen? Sie war bereit, ihm bis ans Ende der Welt zu folgen, welche Rolle spielte es schon, wo sie lebten, wichtig war, dass sie für immer zusammenblieben.
Sie trafen in aller Eile ihre Vorbereitungen, verabschiedeten sich von Eltern, Freunden, Verwandten und fanden sich am Tag der Abreise pünktlich in Begleitung des Botschaftsvertreters auf dem Flughafen ein. Er hatte sich um die Papiere für die Ausreise von Inessa und Saša gekümmert. Als sie dem Abfertigungspersonal gegenüberstanden, ließ man Endri sofort passieren. Dann betrachtete der Herr hinter der Scheibe lange Zeit Inessas Papiere, schüttelte den Kopf und erklärte, dass das Visum nicht ausreiche.
Das Touristenvisum, das die albanische Botschaft für Inessa ausgestellt hatte, war seit einigen Monaten nicht mehr gültig. Sie konnte damit im Augenblick nicht ausreisen. Der einzige Weg war die Familienzusammenführung mit Endri. Das Flughafenpersonal wunderte sich, dass die albanische Botschaft diesbezüglich nichts erwähnt hatte: Es handele sich um ein gemeinsames Abkommen beider Länder.
Endri war schon auf der anderen Seite. Der Botschaftsvertreter entschuldigte sich mit ruhiger Geste.
»In derart bewegten Zeiten«, sagte er, »kann man sich leicht mal irren. Diese Dinge sind auch für uns neu.« Dann fügte er mit steifem Lächeln hinzu, dass sich Endri, sobald er in Tirana war, gleich um den Antrag zur Familienzusammenführung kümmern könne.
Eine Szene hatte sich Onkel Endri unauslöschlich ins Gedächtnis gebrannt: Inessa mit Saša, die ihm zuwinkt und weint, die mit ihren zarten Armen den Sohn hochhebt und ruft: »Wir warten hier auf dich.« Dann, als sie ihn fortgehen sieht, verliert Inessa den Kopf und stößt einen Schrei aus.
Das ist die Geschichte, die Onkel Endri meiner Mutter erzählte. Wo sollte er die Kraft hernehmen, sich zu erheben. Nichts hatte mehr Sinn.
Am Tag nach seiner Rückkehr in die Heimat hatte man ihn auf ein Amt gebracht, vielleicht ins Innenministerium.
»Hör zu, Junge«, hatte man ihm gesagt, »die Angelegenheit ist hiermit begraben. Wir meinen es nur gut mit dir. Nennen wir es einen jugendlichen Fehltritt oder was auch immer. Du kommst noch mal davon, weil du aus angesehener Familie stammst. Jetzt geh nach Hause, und vergiss die ganze Geschichte. In ein paar Tagen werden wir dich anrufen und dir mitteilen, wo du arbeiten sollst. Wir haben dich all die Jahre im Ausland unterhalten, damit du lernst, dem Vaterland zu dienen. Falls dir das nicht passt, kennst du die Alternative: Du wirst in irgendeinem Gefängnis vergammeln und mit dir deine gesamte Verwandtschaft bis zum siebten Grad. Die Unterredung ist beendet.«
Onkel Endri stand monatelang nicht aus dem Bett auf. Mein Großvater verstand alles und litt mit ihm. Er besorgte seinem Sohn ärztliche Atteste, die ihm Hepatitis C bescheinigten, damit er nicht zur Arbeit musste. Zu sagen, dass der Sohn depressiv war und sterben wollte, wäre eine Schande gewesen. Großvater versuchte, ihn zu trösten. Saša würde irgendwann erfahren, dass er ihn nicht verlassen hatte, versicherte er, denn die Wahrheit kam immer irgendwann ans Licht.
»Schon, Papa«, antwortete Onkel Endri, »aber es wird eine Geschichte sein, die er seinen Kindern erzählt. Ich will keine Geschichte werden.«
Was sollte Großvater antworten. Er hatte keine Antwort. Es waren Zeiten, in denen die Leute, außer den Antworten, auch die Hoffnung verloren hatten.
Viele Monate später begann Onkel Endri wieder zu arbeiten. Er ging bei Morgengrauen aus dem Haus und kam spät in der Nacht zurück. Der Raumfahrtingenieur Endri Breshani gab dem Vaterland in Windeseile das zurück, was dieses in seine Ausbildung investiert hatte. Bis auf den letzten Lek. Aber niemand gab Endri Breshani seine im Schmerz verlorenen Jahre zurück: Von Inessa und Saša hörte er nie wieder.
Während der Stillzeit meiner Cousine Greta schlief Onkel Endri im Wohnzimmer auf dem Sofa.
»Das sind Frauenangelegenheiten«,
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