Rot wie eine Braut: Roman (German Edition)
Haus zu gehen. Während die Angehörigen die Beisetzung für den nächsten Tag planten, fiel ihnen ein, dass es im Dorf keinen Imam gab. Einen aus dem Nachbardorf zu holen war unmöglich. Bei diesem Wetter stundenlang auf Reisen zu gehen wäre vollkommen verrückt gewesen.
Vielleicht hatte der Pfarrer einen Freund, der dem Verstorbenen die Suren singen konnte?
Ja, es gab auch Imame unter seinen Freunden, aber sie lebten weit weg.
»Was?«, rief die Witwe erbost. »Meinem armen Mann soll nicht jede Ehre erwiesen werden, die er verdient? Es gibt niemanden, der ihm die Suren singen kann? Dann werde ich selbst losziehen und einen Imam suchen, zu Fuß mitten durch den Schnee, so könnt ihr mich gleich neben ihm begraben, wenn ich sterbe.«
Angesichts der ausweglosen Situation sagte der Pfarrer schließlich:
»Dann singe eben ich die Suren, was soll’s. Ich werde heute Abend noch mal alles durchgehen, auch wenn es eigentlich nicht nötig ist. Ich weiß genau, was der Imam sagt, wenn einer stirbt, ich werde mein Bestes geben.«
Welch Erleichterung für die Familie. Was spielte es letztlich schon für eine Rolle? Ob Pfarrer oder Imam, schließlich kümmerten sich beide um Gottes Angelegenheiten, oder? Um welchen Gott es sich genau handelte, war ziemlich belanglos. So nahm Großmutter Saba an der vermutlich ersten Beerdigung der Welt teil, auf der ein Pfarrer Suren aus dem Koran sang.
In den Jahren des offiziellen Religionsverbots vermisste Großmutter Saba ihre Besuche bei den Derwischen sehr. Sie erzählte mir ständig von einem wirklich guten aus Tepelena. Sie war oft mit ihren Schwestern zu ihm gegangen.
»Er war ein echter Schamane. Mit der Schließung der Teqe hat uns Enver Hoxha diesen Scharlatanen von Zigeunern überlassen, die alle vorgeben, Magier zu sein.«
Um zu ihrem Derwisch zu gelangen, musste Großmutter ins Tal hinabsteigen. Der Schamane behandelte alle Leute wie Familienmitglieder. Es gab viele Gästezimmer in seinem Haus, und am Abend wurde für alle gemeinsam das Essen zubereitet. Die Kinder des Derwisches schlachteten ein Lamm oder irgendein anderes Tier (außer Schwein), dann deckten sie auf der einen Seite für die Frauen, auf der anderen für die Männer. Niemand sah den Schamanen im Haus herumlaufen. Er befand sich in einem abgelegenen Raum, der sich auch architektonisch von den anderen unterschied. Es war ein wahrhaft heiliger Ort. Am Morgen, nach dem Kaffee, warteten die Frauen darauf, an die Reihe zu kommen. Sie wurden in sein Zimmer geführt, und alle erzählten ihm den Grund ihres Besuchs. Der Schamane saß ganz in weiß gekleidet auf dem Quilim, der am Boden seiner Teqe ausgebreitet lag, und hörte zu. Dann erhob er sich, trat auf die Frau zu, die schweigend sitzen blieb, und begann mit fast schreiender Stimme:
»Du, Saba, Tochter von Meliha, bist hier, weil du deine Tochter Eugenia, Tochter von Saba, verheiraten willst …«
Oder:
»Du, Saba, Tochter von Meliha, bist hier, weil du deinem Mann Omer, Sohn von Semia, das Trinken abgewöhnen willst …« Danach verstand Großmutter Saba gar nichts mehr, der Schamane nahm irgendwelche ihr unbekannten Kräuter und verbrannte sie. Dichter, weißer Rauch breitete sich aus, der Schamane blies Großmutter den Rauch um den Kopf. Dann stimmte er seltsame Lieder an, und je stärker sein Gesang anschwoll, desto schneller wirbelte er den Rauch um ihren Kopf. Hinter dem Rauch sah Großmutter einen weißen Schatten, der im Kreis herumzutanzen schien. Schließlich setzte sich der Schamane keuchend und erschöpft auf dem Quilim nieder. Der Geruch von verbrannten Kräutern hing noch in der Luft, ein angenehmer Geruch, der von fernen, nur dem Derwisch zugänglichen Orten zu zeugen schien.
»Saba, Saba«, murmelte er, »es ist alles in Ordnung, du kannst gehen … Ich hoffe, ich werde dich erst in ferner Zeit wiedersehen …«
»Bei den vielen Töchtern, die ich verheiraten muss …«, antwortete Großmutter.
Ob mit oder ohne Schamane ist es ihr am Ende gelungen, all meine Tanten unter die Haube zu bringen.
Sieben
Drei Monate im Jahr verwandelte sich Vlora, meine Heimatstadt, in die Hauptstadt: dort war das Meer, dorthin kam die gesamte Regierung, um Urlaub zu machen, es war das Paradies. Den Rest des Jahres schienst du dagegen irgendeine Strafe abzusitzen, du kamst um vor Langeweile.
Es war in den Jahren des Heranwachsens, als in mir ein Entschluss reifte: Ich würde den Rest meines Lebens in einer Hauptstadt verbringen. Natürlich konnte ich
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