Rot wie eine Braut: Roman (German Edition)
… Sie wollen dich auspressen wie eine Zitrone, um dich dann wegzuwerfen. Kannst du dir eine ausgepresste Zitrone vorstellen? Was macht man damit? … Man schmeißt sie weg, oder? Weil sie niemandem mehr etwas nutzt.«
Dann erhob er sich. Offenbar war er fertig. Als auch wir uns erhoben, kam ihm eine andere Idee:
»Ich mache mir keine Sorgen um dich. Weißt du auch weshalb nicht? Nach wem kommen die Mädchen? Nach den Müttern, ist doch klar, also kommst auch du nach deiner Mutter.«
In der Sprache meiner Familie war das eine versteckte Drohung an Mama: »Wenn deine Tochter eine Kurva wird, ist es allein deine Schuld.«
Ich ging in die zweite Klasse des Gymnasiums. Mittlerweile beachtete ich Gjergjis Nachstellungen gar nicht mehr. Er war ernster geworden, er hatte sich verändert. Wenn wir uns im Treppenhaus begegneten, wirkten wir wie ein altes Ehepaar am Ende seiner Tage. Ich wusste, dass er müde war, ich fragte nicht, wie es mit seiner Arbeit als Mechaniker lief. Wir sprachen über meine Schule, dann ergriff ich unter dem Vorwand der Hausaufgaben die Flucht. Diese Augenblicke hinterließen in mir den Eindruck tiefer Trostlosigkeit: Ich schien in seinem Leben das Einzige zu sein, was ihm noch geblieben war.
»Gute Nacht«, sagte er mir im Dunkeln. »Gute Nacht, du Licht meiner verglühten Jugend. Eines Tages werde ich dich verlieren, einfach so, ohne dich jemals gehabt zu haben. Aber vielleicht auch nicht, vielleicht nicht.«
»Gute Nacht Gjergji«, murmelte ich, bevor ich die Treppen hinauflief.
»Verlob dich mit mir.« Es war Gjergjis Stimme, die wie immer aus der Dunkelheit des Treppenhauses kam. »Du bist alt genug, werde meine offizielle Verlobte. Möchtest du, dass ich meine Eltern bitte, um deine Hand anzuhalten?«
Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. In gewissem Sinn gehörten wir zusammen, aber nicht auf diese Weise. Unsere Kindheiten waren unauflöslich miteinander verschmolzen, unsere Geschichte war der einzige Quell an jenem scheinbar gänzlich ausgedorrten Ort, aus dem sich noch schöpfen ließ.
»Gjergji, ich will mir kein Leben mit dir aufbauen. Ich will am Abend nicht auf deine Heimkehr warten, dich nicht am Morgen in der Tür verabschieden. Ich will nur deinen Schatten sehen zu jeder Dämmerstunde meines Lebens, will darauf warten, dein Schweigen zu vernehmen.« Das sind die Worte, die ich Gjergji gerne erwidert hätte, Worte, die mir heute so vorkommen, als seien sie einem jener Liebesromane entsprungen, die ich damals las. Aber es waren aufrichtige Worte. Es waren meine fünfzehn Jahre, die aus ihnen sprachen.
Vierzehn
Es fällt mir nicht schwer, in der Landschaft meiner Jugenderinnerungen das zarte Gesicht Blertas zu entdecken. Als junge Mädchen waren unsere Gedanken von Liebesliedtexten erfüllt. Hinter diesen Liedern versteckten wir unsere Träume, so wie wir unsere Köpfe hinter den Blumentöpfen ihres Balkons versteckten, um die Jungen zu beobachten, die die Straße entlangliefen.
An einem Tag im Spätfrühling ging ich mit Blerta spazieren. Meine Eltern sahen es nicht gern, dass ich mich mit ihr traf, da sie nicht besonders gut in der Schule war. Wir besuchten erst die dritte Klasse der Mittelschule, sie hatte noch Zeit genug zum Lernen, dachte ich. Blerta war blond und zog die Blicke auf sich. Sie hatte genauso wohlgeformte Beine wie Parashqevi Simaku, eine damals ziemlich bekannte Sängerin, und alle Jungen waren hinter ihr her. Sie hatte auch einen großen Hintern. Ich nicht, im Gegenteil, mir riefen sie oft »Hintern für zwei Groschen« hinterher, was übrigens nicht dasselbe ist wie Zweigroschenhintern, aber was soll’s. Er wird schon wachsen, dachte ich.
Mit Blerta sprach ich über alles. Sie war es, die mir erklärte, wo die Kinder herauskommen. Ihre Mutter war Hebamme.
Bei Blerta zuhause gingen seltsame Mädchen ein und aus. Ihre Mutter brachte sie mit, um sich mit ihnen zu unterhalten oder um sie zu einem Essen in familiärem Kreis einzuladen. Sie lebten in der Mutterschafts-Klinik. Auch ich unterhielt mich manchmal mit ihnen. Sie hatten alle dicke Bäuche. Sie warteten. Meistens kamen sie aus verschiedenen Städten. Einige blieben ein halbes Jahr, andere länger, dann verschwanden sie, und neue Mädchen nahmen ihren Platz ein. Die Klinik war immer voll belegt. Sie waren alle blutjung, keine hatte die Oberschule beendet. Blerta erzählte mir, dass ihre Familien sie nicht mehr haben wollten: Die Partei schickte sie aus allen Teilen des Landes hierher.
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