Rot wie eine Braut: Roman (German Edition)
weißen Fäuste und atmete mühsam. Sie war erst siebzehn Jahre alt.
»Tut dir das weh?«, fragte die Hebamme und steckte ihr eine Hand in die Vagina. »Als da was anderes drinsteckte, tat’s dir nicht weh, was? Du kannst dieser Regierung dankbar sein, dass sie dich im Krankenhaus entbinden lässt. Flittchen wie dich müsste man auf der Straße verrecken lassen.«
Hena begriff nicht, warum sie so hart zu ihr war. Aus ihrem Gedächtnis tauchte eine Szene empor, die sie Bild für Bild hätte beschreiben können.
Engjell wartete im Wohnzimmer auf sie. Sie war kurz auf die Toilette gegangen und sah sich im Spiegel an. Sie konnte sich nicht richtig erkennen, der Spiegel war mit braunen Flecken überzogen. Mit einem grünen Plastikbecher füllte sie ein kleines Becken und wusch sich die Hände.
Dann kam sie zurück. Engjell, ihr blonder Engel, zog sie an sich und küsste sie ausgiebig.
»Ich liebe dich«, sagte er, »ich halte es nicht mehr aus, noch länger zu warten.«
»Worauf?«, fragte sie.
»Dich zu vögeln«, antwortete er.
Sie spürte Enttäuschung. Sie hatte gehofft, dass er vielleicht »dich zu heiraten« oder »dich für immer zu besitzen« sagen würde. Sie versuchte, sich ihm zu entwinden, aber es war bereits zu spät. Er hatte schon die Hosen runtergelassen.
»Warte«, sagte sie, »ich will, dass wir erst heiraten.«
»Wir heiraten später«, erwiderte er.
Hena stieß noch einen verzweifelten Schrei aus, danach nichts mehr – nur noch das Weinen eines Kindes.
»Ein Mädchen?«, fragte sie mit dünner Stimme.
»Gott sei Dank nein«, sagte die Hebamme, »eine Kurva weniger.«
Fünfzehn
Seltsam, ich habe noch gar nicht von einer meiner Lieblingstanten erzählt. Tante Bianca ist die zweitjüngste Schwester meines Vaters, sie lebte ebenfalls in Vlora. Sie hatte weder einen Botschafter geheiratet, noch war sie für ein paar Jahre ins Ausland gegangen. Zu meinem Glück, denn ihre Tochter Flora war die Cousine, an der mir am meisten lag.
Als wir noch jünger waren, verbrachten wir ganze Nachmittage in ihrem Zimmer, um zu lesen, zu lesen und zu lesen. Ich war noch aus einem anderen Grund gerne bei ihnen zu Hause: Floras Papa, Onkel Timo, benahm sich anders als normale Väter. Er erhob nie die Stimme oder die Hand gegen die Kinder, er spielte und lachte mit ihnen. Das erstaunte mich zutiefst. Unglaublich, sagte ich mir, es gibt auch solche Väter.
Onkel Timo hatte fünfzehn Jahre an der Grenze zu Serbien verbracht. Er hatte gute Arbeit geleistet: nicht die kleinste Fliege war je auf die andere Seite gelangt. Er musste nie auf unorthodoxe Mittel zurückgreifen, die Leute aus der Gegend hatten nicht die geringste Absicht fortzugehen. Ihr Hab und Gut verlassen, um wer weiß wohin zu gehen?
Nach jenen Jahren des Dienstes am Vaterland war Onkel Timo nach Vlora zurückgekehrt, hatte meine Tante geheiratet und drei gesunde Kinder in die Welt gesetzt.
Er schaute immer italienisches Fernsehen, er kannte die Sprache. Seine Leidenschaft für Sprachen war allerdings schon viele Jahre zuvor erwacht. Einmal hatten seine Kollegen vom Geheimdienst einen Gymnasiallehrer verhaftet, weil er unter seinen Schülern verbotene Literatur verteilte. Die Beweise dieses furchtbaren Vergehens wurden beschlagnahmt, darunter auch ein Italienischwörterbuch mit einer dazugehörigen Sprachlehre. Onkel Timo hatte alles in Verwahrung genommen und während seiner Nachtdienste, anstatt sich im Sessel auszuruhen, Seite um Seite des vergilbten Buches kopiert. Es handelte sich um einen Band, der anlässlich des Besuches von Graf Ciano erschienen war. Der Graf, der wenig später von seinem Schwiegervater um die Ecke gebracht wurde, war längst in Vergessenheit geraten, seine Sprache dagegen nicht.
Nach Italienisch kamen Französisch und Englisch an die Reihe.
»Wirst du bei all den Sprachen nicht ganz wirr im Kopf?«, fragte Tante Bianca. »Am Ende vergisst du noch die eigene.«
Onkel Timo lief oft Gefahr, in ernsthafte Schwierigkeiten zu geraten. Es war sein rebellisches Temperament, das ihn immer wieder zu gefährlichen Handlungen verleitete. Er bestritt das und sagte, es habe nichts mit Rebellion, sondern lediglich mit Menschenwürde zu tun. Er hätte uns an seiner Stelle sehen mögen, wie wir uns verhalten hätten.
Er hatte dabei vor allem eine Geschichte im Kopf, die mit einem seiner Spezialaufträge in den Bergen zusammenhing. Es war die Zeit der Wildschweinjagd, und überall wurde erzählt, dass die damalige rechte Hand
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