Rot wie eine Braut: Roman (German Edition)
Sie fragte mich, ob ich lieber ein Schwesterchen oder lieber ein Brüderchen haben wollte, aber mir war das ganz egal. Das Wort »Schande« konnte niemand aus meinem Kopf vertreiben.
Der Junge, der an jenem Nachmittag im Tor stand, hieß Gjergji. Er besuchte damals die letzte Klasse der Mittelschule. Er wohnte in unserem Viertel, aber ich spielte mit den Kindern in meinem Alter, vor allem mit Mädchen.
Ein paar Monate später traf ich Gjergji wieder. Vor dem Hauseingang parkte ein Militärlaster, und er half den Eltern, Kartons abzuladen. Sie zogen ins Erdgeschoss unseres Hauses.
Von diesem Zeitpunkt an bis zu meinem achtzehnten Lebensjahr ließ mich Gjergji keinen Augenblick mehr in Ruhe. Ich entwickelte mich zu einer jungen Frau, und er war mir dabei eine große Hilfe.
Eines Tages spielte ich mit meinen Freundinnen Volleyball. Zwischen zwei Pappeln hinterm Haus hatten wir ein dünnes Seil gespannt und auf der frischen Erde das Spielfeld markiert. Irgendwann rief Eva mir zu:
»Pass auf, Gjergji kommt.«
Auch für meine Freundinnen war es ein Albtraum. Dennoch verspürten wir eine Art Erregung angesichts des Neuen, das wir Mädchen an diesem Nachmittag erleben würden. Etwas, das uns tief beunruhigte, ohne dass wir wussten weshalb.
Wir taten so, als sei nichts geschehen, und spielten weiter, aber keine dachte mehr ans Spiel. Meine Freundinnen mussten sich bereithalten, um mich zu beschützen, außerdem durften wir uns keines von Gjergjis Worten entgehen lassen, die wir später alle gemeinsam durchgehen würden.
Er kam näher und zog ein kleines Messer hervor. Wortlos begann er, den Stamm einer Pappel damit zu bearbeiten. Als meine Freundinnen das Messer sahen, scharten sie sich um mich. Dieselbe Szene, die sich bei allen Frauen der Welt abspielt. Der Mann nähert sich, und die Frauen scharen sich plötzlich zum Rudel, grenzenloser Zusammenhalt.
Gjergji blieb eine Weile dort, dann kam er zu uns.
»Siehst du dieses Messer?«, fragte er mich. »Wenn du einen anderen anschaust, schneide ich dir die Kehle durch. Du gehörst mir.« Dann verschwand er.
Der Chor der Freundinnen setzte ein:
»Oh Dora, du Ärmste, was musst du erleben.«
Sie schienen alle verzweifelt wegen mir, aber ich glaube, sie bedauerten, nicht an meiner Stelle zu sein. Wir näherten uns der Pappel, die Gjergji so lange bearbeitet hatte. Dort war ein Herz mit einem Pfeil eingeritzt. In dem Herz die Buchstaben D und G.
Gjergji hatte das Gerücht in Umlauf gebracht, dass er mich »großziehe«. In unserer Sprache bedeutete das, dass er über meine Ehre wachte. So würde ich rein und unberührt für ihn bleiben: Er sollte der Erste und der Letzte sein.
Oft war mir seine Wachsamkeit lästig. Er wartete im Dunklen im Treppenhaus auf mich, nur um mir zu sagen, dass ihm mein Lachen nicht gepasst habe, als ich gemeinsam mit den Freundinnen »wie eine serbische Stute« in der Stadt herumsprang. Er verfolgte mich überall hin. Es war beinahe so, als hätte ich zwei Väter, ich wurde doppelt überwacht, wenn ich mich der Kontrolle des einen entzog, so entkam ich bestimmt nicht der des anderen.
Gjergji hat nie versucht, mich zu küssen oder anzufassen, wie es Jungen in seinem Alter normalerweise tun. Er sagte, dass er sich mit mir nicht amüsieren wolle, sondern es ernst meine. Um sich zu amüsieren, hatte er sich eine gleichaltrige Blondine gewählt.
»Hör zu«, sagte er, »wenn dir zu Ohren kommt, dass ich mit Mariana zusammen bin, sei unbesorgt: Es ist nur ein Zeitvertreib. Mit ihr habe ich meinen Spaß und sonst nichts, mit dir ist es mir ernst.«
Dieser Gedanke, der mir heute absurd erscheint, kam mir damals vollkommen normal vor. Normal und gemäß der Moral.
Gewisse Dinge tat man mit leichten Mädchen und nicht mit einer, die man später einmal heiraten wollte.
Am Ende des ersten Gymnasialjahres sah mein Vater den Zeitpunkt gekommen, sich um meine Sexualerziehung zu kümmern.
»Klementina, Dora, kommt her.«
Er rief uns beide ins Wohnzimmer, schloss die Tür und nahm uns gegenüber Platz. Ich weiß nicht, ob auch Mama erzogen werden sollte, sie saß schweigend da und wartete darauf, dass Papa das Wort ergriff.
»Vielleicht hast du es bisher noch nicht bemerkt, aber du bist kein Kind mehr«, begann er. »Deshalb«, Papa sah Mama hilfesuchend an, aber sie hatte beschlossen, ihm diese Hilfe zu verweigern, sie schwieg. »Deshalb … musst du auf der Hut sein. Du darfst dich nicht auf Jungen einlassen … sie wollen … immer nur das Eine
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