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Rot wie eine Braut: Roman (German Edition)

Rot wie eine Braut: Roman (German Edition)

Titel: Rot wie eine Braut: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anilda Ibrahimi
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Blätter im Morgentau. Beim Frühstück sah mich Großmutter Saba forschend an. Wir umarmten uns, für einen kurzen Augenblick presste sie sich ganz und gar an mich, einer Möwe gleich, die der Wind an unbekannte Ufer geschleudert hat. Ich dachte, dass ich für sie ein unbekanntes Ufer werden würde, wie alle Menschen, die ihr Leben verändern. Wie alle, die fortgehen.
    Mama begleitete mich zum Bahnhof. Sie drückte mich ganz fest. Mein Gesicht war von ihren Tränen benetzt. Aus dem Zugfenster sah ich sie mit einer Hand winken, während sie sich mit der anderen das rabenschwarze Haar aus den Augen strich. Dann ließ sie die Arme sinken, die Hände mit den langen Fingern. Einen kurzen Moment lang schien es mir, als würden diese Finger immer länger und durchquerten wie feine Lichtstrahlen den Raum, um noch vor dem Zug, vor mir, in Tirana anzukommen – um mich noch einmal in die Arme zu schließen.
    Die Ohrringe der verstorbenen Braut waren in dem braunen Lederkoffer verstaut, den mein Vater durch die Straßen der Hauptstadt schleppte, während wir in Richtung Studentenstadt liefen.
    Mein Vater hatte einen Weg gewählt, der an dem künstlichen See von Tirana entlangführte. Wir hätten auch eine Abkürzung über die Elbasan-Straße nehmen können, aber Papa wollte lieber so gehen. Die Elbasan-Straße, die die meisten unter dem Namen Botschaftsstraße kannten, galt es seiner Meinung nach zu vermeiden. Dort war seit Monaten das albanische Heer stationiert und rührte sich nicht vom Fleck. Zumindest bisher.
    In dieser Straße war es am 2. Juli 1990 drunter und drüber gegangen. Zuerst war ein großer Wagen gegen die Mauer gefahren, die das Gelände der deutschen Botschaft umgab. Es war kein Unfall, der Wagen hatte zurückgesetzt und das Manöver so lange wiederholt, bis die Mauer in sich zusammenfiel. Schließlich war damals die Zeit der fallenden Mauern. Wenigstens ein Mal hielten wir Schritt mit unserer Welt, oder besser gesagt mit der Welt, die wir für die unsere hielten. Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer: Die Menschen strömten in die deutsche Botschaft! Später auch in die italienische, die französische, die griechische … bis alle überfüllt waren. Tirana war in jenen Tagen zweigeteilt, 2700 Leute drinnen und die anderen draußen, jenseits der Mauer. Verzweifelt weinende Frauen, die versuchten, ihren glücklichen Ehemännern über die Mauer zu folgen, Mütter, die ihren heranwachsenden Söhnen nachschrien: »Denkst du gar nicht an uns? Sie werden deinem Vater den Parteiausweis wegneeeehmen!!«
    Würde das albanische Heer schießen?
    Nein, so weit sollte es nicht kommen.
    Die 2700 Personen wurden zum Hafen von Durazzo gebracht und von dort außer Landes, sie waren frei. Aber die Leute hofften noch auf ein zweites Wunder, oft erwachte Tirana morgens mit der Nachricht, die Botschaften hätten wieder eröffnet. Alle stürzten sich aus den Betten und sahen sich wenig später im Nachthemd dem Heer gegenüber.
    Ich weiß nicht, weshalb mein Vater nicht bei den Botschaften vorbeiwollte, vielleicht um zu vermeiden, dass ich auf dumme Gedanken kam. Sie sollten mir dennoch kommen, gleich am nächsten Tag.
    In dem großen Park, durch den wir liefen, waren überall Pärchen, die miteinander flirteten, und es war ziemlich peinlich, ihn mit einem Vater zu durchqueren, der dich mit dem braunen Lederkoffer in der Hand zur Uni bringt. Ich ließ mir nichts anmerken und lief schweigend weiter. Doch plötzlich schien es, als erinnere sich Papa an etwas, und so kam es denn, leider, zum zweiten Teil meiner Sexualerziehung.
    »Siehst du«, sagte er, »siehst du diese Mädchen? Ich rate dir, wenn dir jemand vorschlägt, hier spazieren zu gehen, lass dich niemals darauf ein. Die Unglückseligen, sie sind verführt worden.«
    Ich sah nirgendwo Unglückselige, im Gegenteil, sie strahlten alle und sahen glücklich aus, während sie sich mit verträumten Augen an ihre Verlobten schmiegten. Du bekamst sofort Lust, auch verführt zu werden.

Zwanzig
     
    Die Nachricht, dass die internationale Koalition nach Ablauf des Ultimatums den Irak angegriffen hatte, erreichte mich am 17. Januar 1991 im Treppenhaus zu unserer Wohnung in Vlora. Es war ein sehr kalter Januar, und in dem Zimmer ohne Heizung in Tirana hätte ich mich nicht auf meine erste Prüfung vorbereiten können. Der eisige Wind aus den Bergen traf auf die etwas wärmere Luft, die vom Meer herüberwehte, sodass sich die Bäume in beide Richtungen bogen. Es war ein

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