Rot wie Schnee
geschlossenen Türen und hohen Mauern mit Stacheldraht eingesperrt zu sein. Er konnte gehen, wohin er wollte, nichts hinderte ihn. Er konnte sich auf eine Parkbank setzen, sich eine Viertelstunde oder eine Stunde oder einen halben Tag ausruhen und dann weiterspazieren, in welche Himmelsrichtung er wollte.
Trotzdem war ihm, als entschieden andere darüber, wohin er ging. Bei dem Spaziergang wurde er zum willenlosen Opfer der Richtungsentscheidungen anderer und fand sich vor einem Hamburgerrestaurant wieder. Er ging hinein, und nachdem er Hunger und Durst gestillt hatte, versuchte er, selbst etwas zu entscheiden.
Irgendwo hier in der Stadt war sein Bruder. Beim Besuch im Knast hatte er weder etwas von seinen Plänen gesagt noch, wo er wohnen wollte. Patricio konnte ihn sich nicht in einem Hotel vorstellen, aber irgendwo musste er ja übernachten. Er |303| konnte im Freien schlafen, wie sie das in Mexiko taten, in eine Decke eingewickelt auf einem
petate
.
Und wo sollte er selbst hingehen? Urplötzlich sehr erschöpft, sank er auf eine Parkbank. Der Kaffeeduft, der aus einem Café herüberwehte, erinnerte ihn an sein Dorf. Sollte er Gerardo im Dorf anrufen, damit er der Mutter die Nachricht überbrachte? Nein, sie wäre außer sich vor Unruhe. Er konnte Maria vor sich sehen, ihren gebeugten Körper, der mit den Jahren immer krummer geworden war, die kräftigen langen Haare, die in zwei Zöpfen auf dem Rücken hingen, und ihre stets beschäftigten Hände. Was tat sie jetzt? Die Sehnsucht nach Mexiko und dem Dorf war auf einmal so stark, dass er schniefte. Eine jüngere Frau, die vorbeiging, warf ihm einen Blick zu. Das Kind, das anscheinend widerwillig an ihrer Seite lief, blieb stehen und sah ihn mit großen Augen an. Die Frau zog den Jungen, der vielleicht fünf oder sechs Jahre alt war, mit sich.
Patricio stand auf. Das nasse T-Shirt kühlte noch immer. Die Hose aus dem Lieferwagen war zu kurz, und die groben Schuhe aus dem Gefängnis sahen klotzig aus. Er sah sich um und entdeckte ein Stück weiter ein Bekleidungsgeschäft. Ein bisschen von dem Geld, das er von José bekommen hatte, konnte er für Kleidung verschwenden.
Um sechzehnhundert Kronen ärmer trat er wieder auf die Straße. Es war ihm nicht klar gewesen, wie teuer es werden würde, aber an der Kasse hatte er nicht protestieren oder feilschen wollen. Er trug wieder Jeans, ein rotes T-Shirt und eine kurze Jacke. In der Tüte lagen ein weiteres T-Shirt , Unterhosen und drei Paar Strümpfe.
Er setzte die Sonnenbrille und die Kappe auf, die er gekauft hatte, und war gleich besserer Stimmung. Er blickte auf die Schuhe, beschloss aber, dass die erst mal reichen mussten.
Der Verkäufer war sehr freundlich gewesen, und es schien ihn nicht zu erstaunen, dass Patricio nur wenige Worte Schwedisch |304| konnte. Auf der Straße fielen ihm die vielen dunkelhäutigen Menschen auf, und da begriff er, dass die Schweden an Ausländer gewöhnt waren.
Er ging zu dem zentralen Platz, an dem er früher vorbeigekommen war. Das war eine alte Angewohnheit. Im Dorf und sogar in Oaxaca war
zócalon
, der Platz, der Treffpunkt. Man spazierte herum, setzte sich auf eine Bank, traf Bekannte und wechselte ein paar Worte. Er hoffte, dass Manuel genauso denken und zum Platz kommen würde. Was sonst sollte er in einer fremden Stadt unternehmen?
Aus einer Fußgängerzone war Musik zu hören, und Patricio blieb stehen. Musikanten gaben ein Konzert. Lateinamerikaner, das sah er sofort. Ähnliche Gruppen hatte er in Kalifornien erlebt. Es waren meist Peruaner und Bolivianer. Er gab ihnen ein bisschen von dem Wechselgeld, das er in dem Bekleidungsgeschäft bekommen hatte. In einer Pause fasste er Mut und ging auf einen der Männer zu.
»Hej, Compañero, weißt du, wo das Restaurant ›Dakar‹ liegt?«, fragte er auf Spanisch.
Der Flötenspieler sah ihn neugierig an. Patricio bereute schon fast, dass er ihn angesprochen hatte. Was wusste er vom »Dakar«? Vielleicht war das ein verrufener Aufenthaltsort für schlechte Menschen?
»Das ist nicht weit von hier«, antwortete der Musiker und wies mit der Flöte in die Richtung. »Geh die erste Straße nach rechts, und nach etwa fünfzig Metern siehst du das ›Dakar‹.«
»Ihr spielt gut«, sagte Patricio.
Der Mann nickte kurz, als mache er sich nichts aus dem Kompliment.
»Woher kommst du?«
»Aus Kalifornien«, sagte Patricio.
Der Mann war nicht unfreundlich, wirkte aber trotzdem mürrisch, abweisend. Der ist auf der Hut, dachte
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