Rot wie Schnee
Patricio.
|305| Er ging in die Richtung, die ihm der Musikant angegeben hatte. Die Spannung, die er im ganzen Körper spürte, war so groß, dass er am liebsten gerannt wäre. Aber er beherrschte sich und bemühte sich, im selben Tempo wie alle anderen in der Fußgängerzone zu gehen. Er sah sich nicht um.
Als er nach rechts abbog, entdeckte er sofort das Schild des Restaurants. Es bestand aus dem Namen und drei roten und grünen Sternen, die blinkten. Endlich angekommen, dachte er. Ihm wurde flau, als habe er früher hier gestanden und das Schild betrachtet.
Sein nächster Gedanke war nicht weniger unangenehm: Hätte ich nicht auf das Gerede des Langen von diesem unschuldigen Brief gehört, der nach Europa gebracht werden musste, oder richtiger, hätte ich mir selbst gegenüber zugegeben, welchen Inhalt ich in dem Päckchen vermutete, wo wäre ich dann? Wer wäre ich dann? Wer bin ich heute?
Wider besseres Wissen hatte er sich hinters Licht führen lassen, verführt von der Macht des Geldes und dem Traum von einem besseren Leben. Und was hatte er stattdessen? Ein vergeudetes Leben. Er hatte seiner Familie nicht Reichtum, sondern Schande gebracht. Warum den Weg jetzt nicht bis zum bitteren Ende gehen? In das Restaurant eintreten und den Dicken und den Langen umbringen? Was ihn betraf, konnte es doch nicht mehr schlimmer kommen. Im Dorf würden sie ihn nicht verurteilen. Im Gegenteil, sie würden ihn womöglich sogar ehren. In ihren Augen wäre es die gerechte Strafe für den
Bhni guí’a
. Angel wäre zweifach gerächt, und kein Zapoteke würde mehr betrogen werden, jedenfalls nicht von diesen beiden.
Wie er da auf dem Bürgersteig stand, schien Patricio zu wachsen. Als er seine neue Kleidung betrachtete, dachte er, dass das seine Rüstung war. Er würde sich nicht schämen müssen. Auch ein Zapoteke kann ansprechend aussehen.
|306| Mochte doch anschließend die Polizei kommen und ihn ins Gefängnis werfen, ihn vielleicht sogar töten. Das spielte keine Rolle mehr. Er würde nicht länger in Schande leben.
48
D ie Zeltplane flatterte im Wind. Zu Hause, dachte Manuel und setzte sich auf seinen Lieblingsplatz an der Böschung. Das war ein Fels, der wie eine Rückenlehne geformt war. Von dort überblickte er den Fluss und die andere Seite, wo die wohlgenährten Rinder grasten. Aber nun schloss er die Augen und versuchte alles, was mit Schweden zu tun hatte, auszublenden. So saß er einige Minuten lang. Schließlich erhob er sich. Die Sonne stand im Südosten, und die gekräuselte Wasseroberfläche blinkte im Sonnenlicht. Flussabwärts schnatterten einige Enten, sie schienen beunruhigt. Manuel sah zum Himmel. Dort drehte ein Habicht seine Runden.
Mit steifen Gliedern kletterte er die Böschung hinauf. Aber auch der Anblick der wogenden Felder oder der schnurgeraden Erdbeerzeilen ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Warum gab es so viele Realitäten? Das verwirrte ihn. Überall auf der Welt standen Menschen am Rand von Feldern, am Rand von Wüsten oder Seen, vor ihrem Zuhause oder vor Gräbern. Oder sie ruhten in Betten oder auf Schlafmatten, allein oder mit einem geliebten Menschen an der Seite. Viele waren unterwegs, unruhig oder erwartungsvoll.
Überall schlugen Herzen, überall hatten Menschen Träume. Wer war er, und wo war sein Platz? Manuel sah auf seine Hände, als könnten sie ihm Antwort geben.
Angel, der in Frankfurt über die Bahngleise rannte, die traurigen Augen der Mutter, ihr von lebenslanger, schwerer Arbeit geschundener Körper, der Duft und die Schönheit der Felder |307| und der Ernten, Worte der Liebe, die er und Gabriella im Dunkeln wechselten – alles vermischte sich in dem Moment in ihm und äußerte sich als bohrendes Gefühl der Angst.
Gib uns ein Land, in dem wir leben können, dachte er, ein Land, in dem wir lieben und in Frieden unsere Felder bestellen können. Warum müsst ihr uns eure manipulierten Samen aufdrängen, eure Unkrautvernichtungsmittel, von denen wir entzündete Lungen und schwärende Wunden bekommen? Warum müsst ihr uns diese Absprachen aufzwingen, die niemand versteht? Wozu dienen eure Zeitungen und eure Radiosender, die nichts als Lügen verbreiten? Was haben wir mit den bewaffneten Kerlen in hoch motorisierten Jeeps zu schaffen, den Drogen? Warum können wir nicht in Frieden die Erde bestellen? Ist das zu viel verlangt?
Die Angst drohte Manuel zu überwältigen, da rief er laut nach dem Bruder: »Patricio!«
Er sah sich um, als wollte er nach seinem Bruder
Weitere Kostenlose Bücher