Rot wie Schnee
Handwerkerzentrums stehen bleiben. Nach einigen Kilometern änderte der Fyrisån die Richtung und floss direkt nach Süden und auf Uppsala zu. Die Brüder kletterten die Böschung hinauf. Vor ihnen lag ein großes Feld und dahinter dichter Wald.
Sie riskierten es und gingen querfeldein, kreuzten eine Landstraße, umgingen ein paar Häuser und erreichten schließlich die schützenden Bäume. Sie folgten einem kaum sichtbaren Pfad durch den Wald. Links und rechts des Wegs konnten sie zwischen tief hängenden Zweigen rote Pilze ausmachen.
»Das ist wie in einem Dom.« Patricio blieb stehen und fuhr mit der Hand über die klebrigen Nadeln. »Wie schön das alles wäre, wenn nicht …«
»Wir gehen weiter!«
Manuel war ärgerlich. An sich war er für die Pause dankbar. Der Bruder zeigte trotz des strammen Tempos kein Anzeichen von Müdigkeit, er hingegen keuchte.
»Die jagen uns«, sagte Patricio.
|375| Als wüsste ich das nicht, dachte Manuel.
»Wenn wir frei wären, würde ich …«
»Was?«
»Ich weiß nicht«, sagte Patricio zögernd. »Gehst du zur Messe?«
»Warum sollte ich das nicht tun?«, fragte Manuel erstaunt.
Er ging immer tiefer in den Wald hinein. Patricio trottete hinter ihm her. Auf einmal standen sie vor einem Haus.
»Das sieht verlassen aus«, sagte Patricio.
Weder auf dem Hof noch hinter den Fenstern war Bewegung zu erkennen, und aus dem Schornstein stieg kein Rauch auf. Ein Kiesweg führte von der Tür im Zaun hinauf zum Haus. Ein alter Baum, noch immer grün und voller Äpfel, lag quer darüber. Manuel bedrückte der Anblick dieses Riesen, der mitten in der fruchtbaren Phase umgestürzt war. Er besah sich die Stelle, wo die dicken Äste vom Stamm abgebrochen waren. Das Holz war hell, aber im Kern war es braun und morsch.
»Wer mag hier im Wald wohnen?«, fragte er und sah sich um.
Das rotbraun gestrichene Haus wirkte in der Nachmittagssonne freundlich und anheimelnd. An dem hohen gemauerten Fundament wuchs üppig eine Sorte gelber Blumen, die Manuel aus seinem Heimatland kannte. Rechts vom Kiesweg erstreckte sich hinter einer niedrigen Mauer aus aufgeschichteten Steinen ein kleiner Acker. Den hatte schon lange niemand mehr bestellt, kleine Bäume sprossen aus einem Meer von hohen Gräsern.
Manuel ging zur Haustür und drückte vorsichtig auf die Klinke. Die Tür war abgeschlossen.
»Manuel, komm!«
Patricio stand vor einem Schuppen und winkte den Bruder zu sich.
|376| »Hier können wir schlafen«, erklärte Patricio, als Manuel herangekommen war.
An der einen Längswand des Schuppens waren Holzscheite bis unter die Decke gestapelt. An der gegenüberliegenden Wand stand ein altes eisernes Bettgestell, an dessen Kopfende eine aufgerollte Matratze lag. Patricio löste den Knoten der Schnur, und die Matratze rollte sich aus. Er lachte.
»Das Bett ist gemacht«, sagte er und warf sich darauf.
Sie trugen ihre Habseligkeiten in den Schuppen. Die Tüte mit dem Geld versteckte Manuel hinter den Holzscheiten. Es war kein gutes Gefühl, ein Eindringling in einem fremden Anwesen zu sein. Andererseits – der Schuppen war nicht verschlossen gewesen, und sie beschädigten nichts. Das Wichtigste war im Moment, dass sie nicht aus der Luft zu sehen waren, falls weitere Hubschrauber auftauchten.
Patricio lag ausgestreckt auf dem Bett, die Hände hatte er unter dem Kopf verschränkt. Manuel setzte sich auf einen wackeligen Holzstuhl.
»Und wenn wir nun alles berichten würden«, sagte Patricio nachdenklich nach längerem Schweigen.
»Und wie stellst du dir das vor? Willst du im Fernsehen auftreten?«
Manuel sah ihn fragend an. Er war zu erschöpft, um denken zu können. Die Müdigkeit in Schweden war anders als die zu Hause. In den Bergen konnte er stundenlang wandern, ohne zu ermüden, auch mit Gepäck.
»Ich glaube nicht, dass die Schweden wissen, wie es in Mexiko ist«, fuhr Patricio fort.
»Das ist doch kein Wunder. Wie viele aus unserm Dorf wissen, wie es hier ist?«
Patricio schloss die Augen. Über seine kurz geschorenen Haare kroch eine Spinne. Manuel betrachtete das Gesicht des Bruders. Es wird Zeit, dass er nach Hause kommt, dachte er, beugte sich vor und wischte die Spinne weg. Patricio lächelte, |377| öffnete die Augen aber nicht. Nach wenigen Minuten schlief er tief.
Wenn wir alles berichten könnten, dachte Manuel, wo sollten wir anfangen? Wie viele würden zuhören? Eva vielleicht, aber wie viele sonst?
Er stand auf und schlich auf Zehenspitzen hinaus auf den Hof.
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