Rot wie Schnee
Er ging zum Haus, drängte sich zwischen Büschen ans Fenster und schaute hinein. Er sah eine Küche, einen altmodischen Herd, der mit Holz zu befeuern war, und darüber den Rauchfang mit der geweißten Wand. An Möbeln gab es nur einen Tisch und vier Stühle. Auf dem Tisch lagen eine vergilbte Zeitung und daneben eine Brille.
Als er vom Fenster zurücktrat und durch das Beet stiefelte, schlug ihm ein bekannter Geruch entgegen. Er schnupperte, sah nach unten und erschrak, als ihm klar wurde, was da so aromatisch duftete.
Er war auf eine
ruta
getreten. Die hellen, gelbgrünen Blätter kannte er so gut.
Muss ich hier sterben?, dachte er, bekreuzigte sich schnell und entfernte sich langsam rückwärts vom Haus.
Er ging zu Patricio, der noch immer fest schlief. Er hatte sich zur Wand umgedreht und die Beine angezogen. Manuel holte die Decke, kroch neben den Bruder und steckte sie um sie beide fest.
59
S elten oder nie hatte Ann Lindell eine solche Flut an Informationen erlebt. Als Erstes kamen von der Polizei in Norrtälje Details, die auch auf die Ermittlungen zu Armas’ Ermordung neues Licht warfen. Patricio Alavez, der wegen Drogenschmuggels verurteilt war, hatte wenige Tage zuvor Besuch |378| von seinem Bruder Manuel Alavez bekommen. Ann Lindell versuchte sofort, etwas mehr über den neuen Teilnehmer in diesem Spiel in Erfahrung zu bringen. Via Fax und via Mail kamen Auskünfte herein, die in ihr die Überzeugung wachsen ließen: Dieser Bruder war hochinteressant.
Sie bat Fryklund, dieses Prachtstück von einem Polizeidienstanwärter, herauszufinden, wie und wann Manuel Alavez nach Schweden eingereist war. Eine halbe Stunde später rief Fryklund sie zurück.
Der Mexikaner war mit einem Direktflug von Mexiko City nach Stockholm gekommen. Dort auf dem Flughafen in Arlanda hatte er ein Auto gemietet, einen fast neuen Opel Zafira. Der Mexikaner hatte bar bezahlt. In vier Tagen sollte das Auto zurückgebracht werden, für den Tag war auch die Rückreise nach Mexiko gebucht.
Ann Lindell gab Fryklund gleich eine neue Aufgabe: alles herauszufinden, was die mexikanischen Behörden über das Brüderpaar zu bieten hatten. Etliches war sicher schon bei den Ermittlungen zu Patricio Alavez bekannt geworden, aber nun kam der Bruder dazu. War er in Mexiko wegen eines Vergehens verurteilt?
Dann rief Ann Lindell Charles Morgansson an, gab ihm die Nummer des Autoverleihs und bat ihn, zu überprüfen, ob der Reifenabdruck vom Lugnet mit dem des Mietwagens übereinstimmen könnte.
»Das hängt doch wohl davon ab, welche Reifenmarke sie benutzen«, sagte Morgansson.
Was für ein überflüssiger Kommentar, dachte Ann Lindell. Sie konnte sich immer mehr darüber ärgern, wenn die Kollegen solche Selbstverständlichkeiten von sich gaben.
»Gibt es vom Lugnet DN A-Spuren ?«, fuhr sie fort.
»Klar«, antwortete Morgansson.
»Check das mit denen von Patricio Alavez, einem der Norrtälje-Ausbrecher.«
|379| »Aye aye, Sir«, sagte der Techniker.
Ann Lindell hatte langsam selbst schon das Gefühl, ein Stabsoffizier zu sein, der seine Truppen von einem Feldtelefon aus dirigierte, und nahm Morganssons Kommentar nicht als Kritik. Sie wusste, dass auch er schnelles Arbeitstempo schätzte.
»Langsam kommen wir auf Touren«, sagte Ann Lindell, um einen etwas entspannteren Ton bemüht. Aber vielleicht wollte sie dem Kollegen damit auch unbewusst ihre Wertschätzung seiner Arbeit vermitteln.
»Ja, sieht nicht schlecht aus«, erwiderte Morgansson. »Wenn die Brüder Alavez zusammenhalten, sollten wir sie schnappen.«
»Gibt’s was Neues zu Rosenberg?«
»Nein, eigentlich nicht. Abgesehen von dem Kokain auf dem Tisch gab es in der Wohnung gar keine Drogen. Es war überhaupt erstaunlich ordentlich. Neben seinen Fingerabdrücken haben wir noch zwei andere sichern können.«
»Slobodans?«
»Nein, der war nicht dabei.«
Sie beendeten ihr Telefonat, und Ann Lindell war erleichtert. Zum ersten Mal hatten sie normal miteinander reden können, ohne dass ihre missglückte Beziehung im Hintergrund gespukt hatte.
»Wir sollten sie schnappen«, wiederholte sie die Worte des Technikers laut für sich.
Sie versuchte, sich zwei Männer auf der Flucht vorzustellen. Versteckte sie jemand? Die Kollegen aus Norrtälje hatten die Filme der Überwachungskameras durchgesehen und waren zu demselben Schluss wie die Mitarbeiter der Strafanstalt gekommen, dass nämlich Patricios Ausbruch eine spontane Aktion war. Das Personal hatte auch glaubhaft
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