Rot wie Schnee
darüber berichten konnte. Morgen würden sicher mehr Details zu erfahren sein.
Sie las den Artikel ein weiteres Mal. »Einige jüngere Männer.« Patrik war doch kein Mann, er war noch ein Junge, ein Teenager, der bis vor zwei, drei Jahren zum Rodeln gegangen war und Serienheftchen gelesen hatte.
Ihr erster Impuls war, von hier wegzuziehen. Sich mit den Söhnen irgendwo niederzulassen, wo keine »aufsehenerregenden Gewalttaten« geschahen. Aber wo sollte das sein? Gab es solche Orte?
Vom Küchenfenster aus konnte sie zusehen, wie die Menschen in den Häusern ringsum aufwachten. Manche frühstückten, |147| manche sahen Frühstücksfernsehen, andere waren schon unterwegs zur Arbeit. Sie sah Helens Mann zum Parkplatz rennen. Er war wie immer spät dran.
Wieder wurde ihr bewusst, wie isoliert die Bewohner dieses Viertels lebten. Wie durch unsichtbare Mauern getrennt. Sie waren Fremde, obwohl sie Nachbarn waren. Was den Einzelnen bekümmerte, berührte die anderen nicht. Menschen, die seit vielleicht zehn Jahren auf derselben Etage wohnten, hatten noch nie ihren Fuß in die Wohnung der Nachbarn gesetzt. Sie kannten ihre Namen, aber das konnten doch genauso gut Nummern sein. Die in Nummer sieben wohnten, konnten 7.1 heißen oder 7.2, 7.3 und so weiter, je nach Etage.
Sie wäre Nummer 14. 6. 1, Patrik 14. 6. 2 und Hugo 14. 6. 3. Das wäre vielleicht sogar einfacher? Jedenfalls für die Behörden. Alle könnten die Ziffern auf der Stirn geschrieben tragen. Sie deckte den Frühstückstisch und musste über ihre verdrehten Ideen lachen.
Einmal waren alle zusammengerückt. Damals hatte die Stiftung einen Teil des Spielplatzes wegnehmen und darauf ein Gebäude für die Müllcontainer errichten wollen. Da hatten sie sich auf dem Hof versammelt und beschlossen, gegen »das Müllhaus« zu protestieren. Helen war damals am aktivsten gewesen, war mit Unterschriftenlisten herumgegangen und hatte in den Treppenhäusern Schreiben aufgehängt. Man konnte von Helen sagen, was man wollte, aber Angst hatte sie keine. Der Zeitungssausschnitt hing noch immer an ihrer Kühlschranktür.
Eva stellte sich wieder ans Fenster, ärgerte sich aber über den eingeschränkten Ausblick. Sie sah nur den Hof, Häuser und im Hintergrund einen Streifen Wald, eigentlich waren das nur vereinzelte Kiefern. Ich glaube, Menschen möchten weit sehen können, dachte sie. Dann kann man in seinem Dasein eine Perspektive entwickeln und Dinge entdecken, die nicht nur einen selbst betreffen. Sie erinnerte sich an einen |148| Besuch in Värmland beim Großvater. Er hatte sie mit auf einen Berg genommen, von wo aus sie meilenweit über Wälder und Seen schauen konnte. Sogar der Großvater war dort oben leise und zeigte ihr die Dörfer und die Wälder, in denen er in seiner Jugend als Holzfäller gearbeitet hatte.
Eva, die damals vielleicht elf, zwölf Jahre alt gewesen war, hatte niemals zuvor so weit sehen können. Sie blieben eine ganze Weile dort auf der Höhe. Das war ihre liebste Erinnerung an diesen Großvater, der meist mürrisch war, oft auch angetrunken. Ein verbitterter alter Kommunist, der niemandem mehr vertraute, nichts mehr als wertvoll erachtete.
»Heute ist doch alles nur noch Schiet«, rief er oft vor dem Fernseher.
Die Gedanken wirbelten Eva durch den Kopf. Ihre gewöhnliche morgendliche Effektivität fehlte heute. Sie brauchte eine halbe Stunde, um den Tisch zu decken, Kaffee zu kochen und die Spülmaschine auszuräumen.
Sie meinte, etwas Wesentlichem auf der Spur zu sein. Vielleicht sollte sie mit Johnny aus dem »Dakar« reden. Oder sogar mit Feo. Jedenfalls mit Menschen von außerhalb, die nicht in diesem Wohngebiet lebten. Helen würde doch nur sofort wegen dieses oder jenes Kindes losbrüllen.
Im selben Augenblick klingelte das Telefon. Sie nahm sofort ab, überzeugt, es könne nur die Polizei sein.
»Hallo, ich hab gesehen, dass du auf bist.«
Das war Helen, sie musste sie am Fenster gesehen haben. Eva zog die Küchentür zu und setzte sich an den Tisch.
»Ich hab von gestern gehört. Das sieht den Bullen ähnlich, Patrik die Schuld zu geben. Da sollten sie mal besser bei den anderen suchen.«
Wen Helen mit »den anderen« meinte, konnte Eva sich leicht vorstellen. Sie klemmte den Hörer zwischen Kopf und Schulter, holte sich einen Becher und schenkte sich Kaffee ein.
|149| »Na, sie wollten doch nur mit ihm reden«, sagte Eva.
»Ach was. Die bilden sich ihre Meinung und verbreiten eine Masse Lügen. Du
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