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Rot wie Schnee

Rot wie Schnee

Titel: Rot wie Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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starrte auf den Geldschein und hängte an die Hundert drei weitere Nullen. Im selben Moment, als das neue Bier vor ihm hingestellt wurde, sah er vor seinem inneren Auge ein Bild aus seiner Kindheit. Zwischen zwei Bäumen war eine Leine gespannt, und dort hängte seine Mutter Wäsche auf. Die bunten Hemden des Vaters neben seinen eigenen T-Shirts und Unterhosen, ein rotes Kleid und einige Laken.
    »Wie geht’s?«
    Gonzo sah verwirrt auf.
    »Gut«, sagte er.
    »Du hörst im ›Dakar‹ auf, hab ich gehört«, sagte der Barkeeper.
    Gonzo nickte, aber das Bild von der Wäsche wollte nicht von der Netzhaut verschwinden: Die Kleidungsstücke bewegten sich in einer leichten Brise, es war Hochsommer, und Gonzo stand im ersten Stock am Fenster. Einen Moment lang meinte er, das Waschmittel zu riechen.
    |234| Der Barkeeper betrachtete ihn ausdruckslos, machte kehrt und ging. Gonzo trank einen Schluck Bier und überlegte, warum er Wäsche vor sich sah. Er war seit mehreren Jahren nicht mehr zu Hause in Norwegen gewesen. War dieses Gesicht ein Zeichen? Sollte er Uppsala verlassen und nach Hause fahren? Das Haus gab es noch, und seine Mutter hängte sicher noch zwischen denselben Bäumen die Wäsche auf.
    Gonzo trank das Bier aus, stand auf und ging schnell durch das Lokal. Plötzlich irritierten ihn die lauten Frauen schrecklich. Ihm war, als verhöhnten sie ihn mit ihrem Lachen.
    Was wissen diese verdammten Weiber von Uppsala?, dachte er und starrte eine von ihnen an, als er sich zwischen Stühlen und Tischen durchdrängte. Sie blickte trotzig zurück, als ahnte sie seine Gedanken und wollte ihre Verachtung ausdrücken.
    Vor dem Pub konnte er sich nicht entscheiden, in welche Richtung er gehen sollte. Der eigene Wille war weg. Er spürte, dass Ärger im Anzug war, und zwar bedeutend lästigerer, als nur den Job zu verlieren. Eine Stimme sagte ihm: Geh nach Hause, zähl dein Geld und buch einen Flug nach Oslo! Vielleicht konnte er dort neu anfangen. Sich einen Job suchen und Uppsala endgültig hinter sich lassen. Eine andere Stimme ermahnte ihn, sich zu rächen. Wenn man an Armas auch nicht mehr rankam, noch gab es ja Slobodan.
    Auf der anderen Straßenseite schob ein alter Mann einen Rollator vor sich her. Am Lenker hing eine Plastiktüte. Der Alte kam nur mit größter Anstrengung voran. Trotzdem lächelte er. Gonzo schüttelte den Kopf und ging nach links in Richtung Zentrum.

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    I m Hinterhof des »Dakar« war nichts schön. In einer Ecke war ein rostiger Opel abgestellt, in der anderen standen drei grüne Müllcontainer, und in einem rostigen Fahrradständer klemmte ein altes Damenfahrrad. Die unebene Asphaltdecke war aufgerissen und verschiedentlich geflickt worden. Sogar das Unkraut, das in den Ritzen wuchs, war schlaff. Es roch nach Abfall, aber das machte Manuel nichts aus. Es fiel ihm kaum auf. Sein Interesse war einzig auf die rot gestrichene Tür mit dem Namen des Restaurants in Weiß gerichtet.
    Eine halbe Stunde hatte er dort gestanden. Zunächst war er zielstrebig auf die Tür zugegangen, aber als er schon klingeln wollte, hatte er sich anders besonnen und sich zurückgezogen und auf den Fahrradständer gesetzt. In diesem Zustand der Unentschlossenheit empfand er zum ersten Mal in diesem fremden Land Ruhe. Vielleicht lag es am Müllgeruch und an der sengenden Sonne, weshalb er sich an die Wand lehnte und lächelte. Problemlos konnte er sowohl den Geruch wie die Wärme aus seinem früheren Leben heraufholen und identifizieren. Das passive Warten hatte etwas Geborgenes. Wie oft hatte er das in Kalifornien erlebt? Das Warten auf Arbeit, dass jemand mit seinem Pick-up vorfuhr, die Scheibe herunterließ, ihn und die anderen Männer wortlos musterte und dabei ihre Muskelkraft und Ausdauer abschätzte.
    Er hätte sich gern eine Zigarette gedreht und vielleicht ein Bier mit jemandem geteilt. Wenn er die Augen schloss, meinte er zu hören, wie sich seine unglückseligen Brüder leise etwas erzählten. Kleine Geschichten von Dörfern und Familien, von denen er noch nie gehört hatte, aber die ihm nun wie alte Bekannte erschienen, von Arbeitgebern, vor denen man sich in Acht nehmen sollte, von Sklaventreibern und Rassisten und von Frauen, lebenden und erträumten.
    |236| Angel hatte immer gefragt, warum die Weißen reich waren und warum die Indianer ein schlechteres Leben als die Hunde führten.
    »Wir sind doch in der Mehrzahl«, wandte er ein, »warum akzeptieren wir, dass sich die Weißen alles Gute

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