Rote Lilien
Alter, in dem sie gestorben ist, und du ziehst ein Kind auf etwas, das ihr verwehrt war. Sie hat Leben geschenkt. Und es wurde ihr gestohlen. Wenn Leben gestohlen wird, was bleibt dann noch?«
»Tod«, antwortete Hayley, während es ihr kalt über den Rücken lief. Sie blieb, wo sie war, als Lily zu Harper lief und ihm die ßrmchen entgegenstreckte. »Sie wird stärker - jedenfalls hat es sich so angefühlt. Sie freut sich darüber, dass sie einen Körper in der Nähe hat, den sie herumkommandieren kann. Sie will noch mehr. Sie will ... Sie ertappte sich dabei, wie sie mit dem Armband spielte, und starrte die funkelnden Steine an. »Ich hab es vergessen«, flüsterte sie. »O Gott, ich hab es ganz vergessen. Gestern Abend, als ich mich umgezogen habe und noch einen Blick in den Spiegel geworfen habe. Sie war da.«
»Hattest du gestern Abend noch so eine Erscheinung?«, fragte Harper. »Nein. Jedenfalls nicht so eine. Statt meines Spiegelbilds habe ich sie im Spiegel gesehen. Aber ich war nicht ...«
Sie schüttelte ungeduldig den Kopf. »Ich war ich, die ganze Zeit, aber das Spiegelbild war sie. Ich habe nichts gesagt, weil ich gestern nicht darüber reden wollte. Ich wollte nur für eine Weile hier raus, und dann ... habe ich es vergessen, bis eben. Sie sah gar nicht so aus, wie wir sie kennen.«
»Was meinst du damit?«, fragte Mitch, der sich Notizen machte. »Sie hatte sich fein gemacht. Ein rotes Kleid, aber es sah nicht so aus wie das, das ich trug. Sehr elegant, tiefer Ausschnitt, schulterfrei. Vermutlich ein Ballkleid. Sie trug eine Menge Schmuck. Rubine und Diamanten. Das Collier war ...« Sie brach ab und starrte entsetzt das Armband an. »Rubine und Diamanten«, wiederholte sie.
»Sie hat das hier getragen. Dieses Armband. Ich bin ganz sicher. Als ich es im Hotel gesehen habe, hat es mich geradezu magisch angezogen. Die anderen Schmuckstücke in der Vitrine habe ich gar nicht gesehen. Sie hat es getragen, an ihrem rechten Handgelenk. Es hat ihr gehört.« Mitch stand auf und ging neben Hayley in die Hocke, um sich das Armband anzusehen. »Mit Schmuck kenne ich mich nicht aus, ich kann also nicht sagen, aus welcher Zeit es stammt. Harper, hat dir der Juwelier gesagt, wie alt es ist?«
»Es muss um 1890 herum angefertigt worden sein«, antwortete Harper angespannt. »Ich habe mir nichts dabei gedacht.«
»Vielleicht hat sie dich ja dazu gebracht, es für mich zu kaufen.« Hayley stand auf. »Wenn sie ...«
»Nein. Ich wollte dir etwas schenken. Mehr war es nicht. Wenn es dir unangenehm ist, das Armband zu haben, oder es dir Angst einjagt, kannst du es ja in den Safe legen.« Grenzenloses Vertrauen, fiel ihr wieder ein. Das war Liebe. »Nein. Es war kein Tausch, es war ein Geschenk.« Sie ging zu ihm und küsste ihn auf den Mund. »Sie soll sich zum Teufel scheren.«
»So gefällt mir mein Mädchen.« Lily schlug mit der Hand auf seine Wange, bis er den Kopf zu ihr drehte. Dann presste sie ihren Mund auf seinen. »Das eine von den beiden«, fügte er hinzu.
Am Abend hatte Hayley sich wieder beruhigt.
Als sie sich mit Lily auf dem Arm in den Schaukelstuhl setzte, wurde sie noch ruhiger. Sie liebte diese Stunde am Abend, wenn es still im Zimmer war und sie ihr Kind in den Schlaf schaukelte.
Wenn sie ihr vorsang. Und obwohl ihre Stimme nicht sehr gut war, schien es Lily zu gefallen. Das war es, wonach Amelia sich in ihrer Umnachtung vielleicht am meisten sehnte. Nur diese kurzen Momente der Eintracht und Ruhe, eine Mutter, die ihr Kind mit einem Wiegenlied in den Schlaf schaukelte. Sie wollte versuchen, sich daran zu erinnern, versprach sich Hayley, wenn sie wütend auf Amelia war oder Angst vor ihr hatte. Sie wollte versuchen, sich an das zu erinnern, was Amelia verloren hatte, was man ihr genommen hatte. Sie versuchte es mit Guten Abend, gute Nacht, weil sie das auswendig konnte. Außerdem lag Lilys Kopf für gewöhnlich schwer auf ihrer Schulter, wenn sie das Lied zu Ende gesungen hatte. Ihre Tochter war fast schon eingeschlafen, als Hayley aus den Augenwinkeln heraus eine Bewegung in der Tür wahrnahm. Ihr Herz fing an zu rasen. Dann, als sie einen lächelnden Harper da stehen sah, beruhigte es sich wieder. »Sie wird nicht einschlafen, wenn sie dich sieht«, warnte sie in dem gleichen sanften Tonfall, in dem sie das Lied gesungen hatte. Er nickte, stand noch einen Moment in der Tür und ging dann. Vor sich hin summend erhob sie sich, um Lily ins Bett zu legen, mit ihrem Plüschhund in
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