Rote Spur
fünf Buchstaben. Man lebt. Oder man lebt nicht. Wie ein Schalter, ein oder aus. Den Inhalt erhält das Wort durch das, was wir damit anfangen. Dadurch entsteht der Unterschied zwischen Existieren und Leben.
Ich habe zu Jessica gesagt, dass ich handeln will, etwas erleben. Ich will leben.
Dabei dachte ich, dass mein Neuanfang eine neue Arbeit, meine Tanzstunden und Schreibpläne bedeuteten. Doch dann verglich ich all das mit dem Leben eines Lukas Becker und wusste, mein Schalter ist noch nicht umgelegt.
(2. Oktober 2009. Freitag.)
Als der Elantra von Baboo Rayan um die Ecke der Chamberlainstraat bog, hielt der Lieferwagen der Telekom vor Haus Nummer 15 – genau vor der Tür.
|309| Die beiden Techniker stiegen aus, der eine mit einer kleinen Werkzeugkiste in der Hand, der andere mit einem größeren Sack und einer Rolle Telefonkabel. Sie traten durch das Gartentor und gingen zielstrebig auf die Haustür zu.
Einer der Techniker begann, das Kabel abzurollen, während er nachdenklich die Wand des Hauses ansah, als wolle er dort etwas installieren. Der andere bückte sich vor der Haustür, den Rücken der Straße zugekehrt, so dass Passanten nicht erkennen konnten, was er tat. Er öffnete die Werkzeugkiste und holte die Kamera heraus. Sie bestand aus einem langen dünnen Kabel mit einer Teleskopkamera am Ende, beim Geheimdienst auch als »Schlangenkamera« bekannt. Langsam schob er das Ende des Teleskops unter der Eingangstür hindurch, den Blick auf den kleinen Farbmonitor im Werkzeugkasten gerichtet.
Dann bewegte er die Kamera am Ende des Kabels hin und her, um so viel wie möglich vom Innenraum erkennen zu können.
»Scheiße«, sagte Rajkumar.
Er und Quinn starrten auf den Monitor in der Leitstelle. Er zeigte ein vergrößertes Bild dessen, was die Schlangenkamera in Bo-Woodstock sah.
»Diese Kerle sind paranoid«, sagte Quinn. Denn der Wohnraum von Nummer fünfzehn war ein Paradebeispiel für gute Absicherung – Alarmkontakte an Türen und Fenstern, Bewegungsmelder in zwei Ecken und eine Videokamera in einer anderen Ecke.
»Man kann es ihnen nicht verdenken«, sagte Rajkumar.
»Das reicht«, sagte Quinn über Funk zu den Technikern. »Nichts wie raus da.«
Mühsam erhob sich Rajkumar. »Das war’s mit dem Mikrofon. So etwas habe ich wirklich noch nie erlebt.«
»Die Alarmanlage?«
»Die auch. Nein, ich meine diese Pechsträhne. Sie hat noch nie so lange angehalten. Mist. Positiv ist nur, dass das Blatt sich wenden muss, früher oder später.«
|310| Am Freitagabend, beim geselligen Abend in der Tanzschule Arthur Murray, sah Milla Strachan, wie Lukas Becker über die Tanzfläche auf sie zukam.
Sie saß mit anderen Tanzschülern an einem Tisch, jung und alt gemischt. Alle warteten darauf, dass die Musik einsetzte, und machten so lange Smalltalk: »Woher kommst du?« und »Wie lange tanzt du schon?« Schließlich wurde das Licht im Saal gedämpft, so dass nur noch die Tanzfläche beleuchtet war, und diese Veränderung lenkte sie ab, so dass sie aufblickte und ihn sah. Ihr erster, instinktiver Impuls war es, ihm zuzuwinken, denn sie kannte ihn. Dann fiel ihr ein, wo sie war und woher sie ihn kannte, und ihr Herz setzte einen Schlag aus.
Die Musik ertönte. Ein Foxtrott.
»Sollen wir tanzen, Milla?«, hörte sie die Stimme ihres Tanzlehrers neben sich. Einen Augenblick lang blieb sie verblüfft sitzen, dann stand sie auf.
Die »Bushaltestelle« sollte den Arthur-Murray-Schülern die Möglichkeit bieten, mit so vielen Partnern wie möglich zu tanzen. Die Frauen stellten sich in einer Reihe auf, und die Männer kamen auf sie zu und forderten jeweils die erste Frau auf. Dann kehrten sie zurück und baten die nächste zum Tanz.
Milla behielt Becker die ganze Zeit im Auge. Sie war sich seiner Anwesenheit bewusst, seines tänzerischen Könnens, seiner Galanterie. Und all dessen, was sie bereits über ihn wusste. Sie zwang sich, ihn nicht anzusehen.
Bei der ersten Runde war er noch nicht an der Reihe, mit ihr zu tanzen. Doch zwanzig Minuten später stand sie an erster Stelle. Er kam direkt auf sie zu, mit demselben Lächeln wie auf dem Foto und kleinen Schweißtröpfchen am Haaransatz. Er verbeugte sich knapp, und dann tanzten sie, und er sagte: »Ich heiße Lukas.«
»Milla«, sagte sie, aber viel zu leise. Sie war von Nervosität wie gelähmt und tanzte ungeschickt.
»Millie?« Er war einen Kopf größer als sie und blickte auf sie herunter.
|311| »Milla.«
»Milla«, wiederholte
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