Roter Drache
bis nur noch sein Gesicht den Bildausschnitt füllt und seine Hand sich nach der Schärfeeinstellung ausstreckt. Das Bild gerät ins Zittern und wird plötzlich für eine Großaufnahme seines Mundes scharf; seine entstellte Oberlippe ist zurückgestülpt, die Zunge zwängt sich zwischen den Zähnen vor, und in einer oberen Ecke ist gerade noch ein Auge zu erkennen. Der Mund füllt die Leinwand schließlich ganz aus, die weit aufgerissenen Lippen geben den Blick auf die zackigen Zähne frei, und dann tritt plötzliches Dunkel ein, als sein Mund sich um das Objektiv schließt.
Die mit der nächsten Einstellung verbundenen Schwierigkeiten waren offensichtlich.
Ein bebendes, verschwommenes Etwas in grellem Scheinwerferlicht wurde zu einem Bett, in dem Charles Leeds verzweifelt mit den Armen um sich schlug und Mrs. Leeds sich, die Augen mit der Hand gegen das blendende Licht abschirmend, aufsetzte, um sich dann ihrem Mann zuzuwenden und ihre Hände auf ihn zu legen. Gleichzeitig rollte sie sich an den Rand des Bettes, um sich, bei dem Versuch aufzustehen, mit den Beinen in den Laken zu verheddern. Die Kamera zuckte zur Decke hoch, so daß die Deckenkanten wie Notenlinien über die Leinwand ruckten, bis das Bild sich wieder stabilisierte. Mrs. Leeds lag nun rücklings auf dem Bett, und auf ihrem Nachthemd breitete sich ein dunkler Fleck aus, während Leeds mit verzweifelt aufgerissenen Augen die Hände an den Hals preßte. Die Leinwand wurde für eine Weile schwarz, und dann folgte das kurze Zucken einer Schnittstelle.
Die Kamera bewegte sich nun nicht mehr; sie war auf einem Stativ befestigt. Inzwischen waren sie alle tot. Und auf ihren Plätzen. Zwei Kinder saßen gegen die Wand gegenüber dem Bett gelehnt; eines saß in der Ecke gegenüber und sah in die Kamera. Mr. und Mrs. Leeds lagen unter den Laken im Bett. Mr. Leeds saß gegen das Kopfteil gelehnt, und das Laken verdeckte das Seil um seine Brust. Sein Kopf war zur Seite gesackt.
Mit den exakten Bewegungen einer balinesischen Tänzerin kam nun von links Dolarhyde ins Bild. Blutverschmiert und bis auf seine Brille und die Handschuhe splitternackt, tanzte und gestikulierte er zwischen den Toten herum. Auf diese Weise näherte er sich der hinteren Seite des Bettes, wo Mrs. Leeds lag, ergriff eine Ecke des Lakens und riß es dann ruckartig vom Bett, um wie ein Matador nach einer eleganten Veronica in Pose zu verharren.
Während Dolarhyde nun den Film im Wohnzimmer des Hauses seiner Großeltern ansah, bedeckte sich sein Körper zunehmend mit einem glänzenden Schweißfilm. Seine dicke Zunge zuckte beständig zwischen den Lippen hervor, so daß die Narbe an seiner Oberlippe vor Feuchtigkeit glänzte, und er stöhnte, während er dabei Hand an sich legte.
Selbst auf dem Höhepunkt seiner Lust mußte er zu seinem Bedauern feststellen, daß ihm in der folgenden Szene des Films alle Anmut und Eleganz der Bewegungen abhanden gekommen waren, als er, der Kamera achtlos das Gesäß zugewandt, in wilder Gier drauflos rammelte. Plötzlich waren da keine dramatischen Pausen mehr, kein Sinn für Steigerungen und Höhepunkte, nur noch viehische Raserei. Trotzdem war es herrlich. Den Film anzusehen, war herrlich. Doch nicht ganz so berauschend wie der Akt selbst.
Die zwei wesentlichsten Schwachpunkte bestanden nach Dolarhydes Auffassung darin, daß im Film nicht der jeweilige Tod der einzelnen Familienmitglieder zu sehen war und daß gegen Ende zu seine schauspielerische Leistung mehr und mehr zu wünschen übrig ließ. Es schien, als hätte er plötzlich alle guten Vorsätze über Bord geschleudert. So hätte das der Rote Drache jedenfalls nicht gemacht. Nun ja, er würde schließlich noch viele solcher Filme drehen, und mit wachsender Erfahrung würde es ihm vielleicht auch gelingen, selbst in den Momenten äußerster Lust eine gewisse ästhetische Distanz zu bewahren.
Jedenfalls durfte er nicht aufgeben. Dies war seine Lebensaufgabe. Ein Werk, das ihn überdauern würde. Vor allem durfte er keine Zeit verlieren. Es galt, seine nächsten Mitdarsteller auszuwählen. Er hatte bereits mehrere Filme von Vierter-Juli-Familienausflügen kopiert. Wenn gegen Ende des Sommers die Ferienfilme eingeschickt wurden, hatten sie in der Entwicklungsanstalt Hochbetrieb. Ein ähnlicher Ansturm setzte nach Thanksgiving ein.
Tag für Tag gingen die Aufträge unzähliger Familien bei ihm ein.
10. K APITEL
D ie Maschine von Washington nach Birmingham war zur Hälfte leer. Graham saß an einem
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