Roter Drache
seiner Kindheit bewohnte. Er stülpte sich die altmodische Trockenhaube seiner Großmutter über und schaltete sie ein. Während er nun unter der Trockenhaube saß, blätterte er in einer neuen Modezeitschrift. Der Haß und die Brutalität, die aus manchen der hochmodischen Fotos sprachen, waren bemerkenswert. Als er beim Betrachten der Modefotos eine wachsende Erregung verspürte, drehte er den Metallschirm seiner Leselampe so herum, daß das Licht auf einen Druck an der Wand über dem Fußende des Bettes fiel. Es handelte sich dabei um William Blakes Der große rote Drache und die mit der Sonne bekleidete Frau.
Er war wie betäubt gewesen, als er das Bild zum erstenmal gesehen hatte. Nie zuvor hatte er etwas gesehen, das seinem bildlichen Denken so nahe gekommen war. Er hatte das Gefühl, als hätte Blake durch sein Ohr einen Blick in das Innere seines Kopfes geworfen und dort den roten Drachen erspäht. Wochenlang hatte Dolarhyde sich Sorgen gemacht, seine Gedanken könnten durch seine Ohren nach außen strahlen, könnten in der Dunkelkammer sichtbar werden und die Filme verschleiern. Deshalb steckte er sich Watte in die Ohren. Aus Angst, die Watte könnte Feuer fangen, ging er zu Drahtwolle über. Davon begannen seine Ohren zu bluten. Schließlich schnitt er aus einem Bügelbrettbezug kleine Asbeststücke heraus und rollte sie zu kleinen Kügelchen zusammen, die in seine Ohren paßten.
Der rote Drache war alles, was er lange Zeit hatte. Doch mittlerweile war das nicht mehr so. Er spürte die ersten Anzeichen einer Erektion.
Er hatte eigentlich vorgehabt, sich Zeit zu lassen, aber nun konnte er es nicht mehr erwarten. Dolarhyde zog die schweren Vorhänge vor den Fenstern im Wohnzimmer im Erdgeschoß zu und baute Leinwand und Projektor auf. Sein Großvater hatte gegen den Widerstand seiner Großmutter einen bequemen, beliebig verstellbaren Fernsehsessel im Wohnzimmer aufgestellt. (Worauf sie es sich nicht nehmen hatte lassen, zumindest über die Kopfstütze ein Spitzendeckchen zu legen.) Doch Dolarhyde war inzwischen nur froh darüber. Der Sessel war sehr bequem. Er legte ein Handtuch über die Armlehne. Dann knipste er die Lampen aus. Und als er sich dann in dem verdunkelten Raum in den Sessel zurücklehnte, hätte er sich überall befinden können. An der Decke hatte er eine Lichtorgel angebracht, die sich langsam drehte und dabei unzählige verschiedenfarbige Lichtpunkte über die Wände, den Fußboden und seine Haut wandern ließ. Er hätte sich genausogut in der Kanzel eines Raumschiffes befinden können, nur durch eine Glaskuppel vom Universum und den Sternen ringsum getrennt. Wenn er die Augen schloß, glaubte er, die Lichtpunkte über seine Haut kriechen zu spüren, und wenn er sie wieder aufschlug, stellte er sie sich als die Lichter von Städten über oder unter ihm vor. Es gab kein Oben und Unten mehr.
Mit zunehmender Erwärmung begann die Lichtorgel sich schneller zu drehen, und die Lichtpunkte schwärmten über ihn hinweg, flossen in eckigen Strömen über die Möbel und stürzten in Meteorkaskaden über die Wände. Er hätte ein Komet sein können, der durch den Andromeda-Nebel schoß.
Nur eine Stelle im Raum wurde nicht von den Lichtpunkten berührt. Er hatte ein Stück Pappe so an der Lichtmaschine angebracht, daß sein Schatten genau auf die Filmleinwand fiel.
Ein anderes Mal würde er vielleicht vorher etwas rauchen, um die Wirkung noch zu steigern, aber diesmal hielt er das nicht für nötig.
Er drückte auf den Startknopf des Projektors neben sich. Ein weißes Rechteck sprang auf die Leinwand, die nach kurzer Zeit grau und streifig wurde, als der Vorspann durchlief. Und dann spitzte der grau-weiße Bobtail seine Ohren und rannte zur Küchentür, wo er freudig mit seinem Stummelschwanz wedelte. Ein Schnitt auf den Hund, wie er eine Straße entlanglief und immer wieder den Kopf herumdrehte, um nach etwas an seiner rechten Flanke zu schnappen.
Nun kam Mrs. Leeds mit den Einkäufen in die Küche. Sie lachte und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Die Kinder kamen ihr hinterher.
Dann ein Schnitt auf eine schlecht ausgeleuchtete Szene in Dolarhydes Zimmer im Obergeschoß. Er steht nackt vor dem Druck des Großen roten Drachen und der mit der Sonne bekleideten Frau. Er trägt seine ›Kampfbrille‹, eine eng anliegende, mit Gummiband befestigte Sportbrille. Er hat eine Erektion, der er von Hand nachhilft.
Das Bild wird immer unschärfer, je näher er in stilisierten Bewegungen auf die Kamera zukommt,
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