Roter Hibiskus: Roman (German Edition)
zu schießen. Ein warmes Gefühl stieg in Mara auf.
Dann blieb die Elefantenkuh stehen. Die großen Ohren klappten nach vorn, eine deutliche Geste der Warnung oder Erregung. John erstarrte. Das Tier hatte sie gesehen. Mit einem fast unmerklichen Kopfnicken bedeutete er Mara, ihm zu folgen, während er in einer einzigen fließenden Bewegung aufstand und sein Gewehr ergriff. Langsam ging er den Pfad entlang, tiefer in die Rinne hinein. Mara tat es ihm nach. Sie wusste, dass es am Ende der Sackgasse einen Weg gab, der auf die Felsen führte – zu schmal und steil für einen Elefanten.
Johns Bewegungen waren gleichmäßig, aber er beschleunigte seine Schritte. Und dann blieb er plötzlich abrupt stehen. Vor ihm tauchte ein Baby-Elefant auf, der aus der Sackgasse heraus auf seine Mutter zulief.
John wirbelte herum, packte Mara am Arm und riss sie an die Seite. Aber die Dornbüsche ließen ihnen nur wenig Ausweichmöglichkeiten.
Kurz herrschte angespannte Stille. Die Elefantenmutter blickte an den beiden Menschen vorbei auf ihr Junges.
Mara hörte Johns Stimme in ihrem Kopf. Wir stehen zwischen der Mutter und ihrem Kalb. Wir sind von Felsen eingeschlossen …
Der Kopf der Mutter flog hoch, die Ohren schlugen wild, und sie trompetete wütend.
Wieder packte John Maras Arm und zog sie zurück zu der Steinbank – damit waren sie zwar näher an der Elefantenkuh, machten ihr aber Platz, damit sie zu ihrem Kind konnte.
Augenblicklich trottete das Junge zu seiner Mutter und suchte Schutz hinter ihr. Mara atmete erleichtert auf – aber als sie sich zu John wandte, trompetete das Tier erneut und kam auf sie zu.
»Lauf!« John zeigte zur Rinne hinauf. Dann rannte er auf den Elefanten zu, schrie und schwenkte sein Gewehr.
Mara taumelte rückwärts und sah ungläubig zu, wie der Elefant John angriff. »John! Komm zurück!«, schrie sie.
Er änderte die Richtung, wobei er immer noch wild mit den Armen fuchtelte. Er lockte die Elefantenkuh weg, wurde Mara klar. Weg von ihr.
Plötzlich blieb John stehen. Er blickte auf sein Gewehr, und sein Gesicht verzerrte sich vor Qual. Mara spürte seine Unentschlossenheit – ein Gefühl, das ihm als Jäger eigentlich fremd war. Ein paar Sekunden vergingen, dann hob er das Gewehr an die Taille. Er löste den Bolzen und schob ihn zurück, um das Gewehr zu laden. Er hob den Sucher ans Auge und richtete das Gewehr auf die Elefantenkuh. Aber bevor er auf den Auslöser drückte, riss er den Lauf hoch, weit über ihren Kopf.
Ein Schuss hallte durch das Tal.
Wieder hob das Tier den Kopf und gab ein wütendes Grollen von sich. Und dann senkte es die Stoßzähne und griff an.
Mara sah, wie John hektisch sein Gewehr nachlud. Aber sie wusste, dass es jetzt zu spät war – der Elefant war zu nahe, um aufgehalten zu werden. Voller Entsetzen stand sie da, als die Elefantenkuh ihren Rüssel um Johns Arm schlang und ihn hochhob. Das Gewehr fiel ihm aus der Hand. John schrie – ein kurzer, erstickter Schrei. Dann wurde er zu Boden geschleudert, und sein Körper schlug krachend auf.
Mara keuchte, erstarrt vor Entsetzen. Ein Teil von ihr wollte zu John laufen, aber ein anderer Teil wusste, dass sie sich damit nur selbst in Gefahr bringen würde. Und das Baby ebenfalls. Ihr Baby.
Die Elefantenkuh hob einen Fuß. Er schien einen Moment lang in der Luft zu schweben, als ob sie es sich doch noch anders überlegen wollte, aber dann senkte er sich auf die schlaffe Gestalt vor ihr am Boden, und sie zerstampfte sie. Mara wandte sich ab, drückte das Gesicht gegen die Steilwand der Rinne. Sie atmete in keuchenden, schluchzenden Stößen; ihre Beine trugen sie kaum noch. Kleine Stückchen Sandstein lösten sich, als sie versuchte, auf den Felsen zu klettern. Aber sie wusste, dass es sinnlos war.
Sie drehte sich wieder um und blickte die Elefantenkuh an, den Rücken fest an den Felsen gedrückt. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Winzige Details fielen ihr ins Auge: die Farbe des Himmels; der unebene Stein, der sich in ihren Rücken bohrte; die Wellenbewegungen der Haut des Tieres, als es auf sie zukam. Halt suchend presste sie sich fester an den Felsen. Ihr zog sich der Magen zusammen. Ein letzter Hunger vor der Dunkelheit …
Erst nach und nach bemerkte Mara, dass der Elefant langsamer geworden war. Aber die Ohren schlugen immer noch. Wie erstarrt stand Mara da und blickte auf die Stoßzähne, die immer näher kamen. Sie legte die Hände über ihren Bauch, als könnte sie das neue Leben darin
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