Roter Hibiskus: Roman (German Edition)
aus der Tasche: ein kleines Schwarzweißfoto mit gezacktem Rand. Er hielt es Mara hin.
»Das ist die Lodge«, sagte er. »Nichts auf der Welt würde mich dazu bringen, woanders zu leben.«
Mara betrachtete das Steinhaus, das unter hohen Bäumen stand. Es wirkte imposant, aber komfortabel – exotisch, aber freundlich. Ein Afrikaner posierte an der Eingangstür und hielt ein großes Gewehr in der Hand. Neben ihm auf dem Boden lagen Leopardenfelle. Mara runzelte die Stirn. Es fiel ihr schwer, das schöne Gebäude mit der Realität der Großwildjagd in Einklang zu bringen.
»Es wird keine Jagdlodge mehr sein«, sagte John, als ob er ihre Gedanken lesen könnte. »Ich will kein Großwild mehr schießen.«
Und dann erklärte er ihr seine Vision für die Raynor Lodge. Er wollte Fußsafaris veranstalten, damit die Leute den afrikanischen Busch wirklich erlebten. Sie würden sich an das Großwild mit allem Geschick des Jägers heranpirschen, aber sie würden die Tiere nur beobachten. Auch Kameras sollten verboten sein. Fotografien wären in gewisser Weise auch Trophäen, sagte er zu Mara; die Leute, die bereits daran dächten, was sie mit nach Hause nehmen könnten, wären nicht ganz im Hier und Jetzt. Seine Augen leuchteten vor Überzeugung, als er ihr seine Pläne erläuterte. Es klang so einfach – und so gut.
Sie redeten noch lange weiter. Ihren Kaffee hatten sie schon längst ausgetrunken, und es waren auch kaum noch Mittagsgäste da. Mara erzählte John von ihrer Kindheit in Tasmanien, von ihren lärmenden Brüdern, von der Farm, die sie liebte und der sie doch immer hatte entkommen wollen. Schließlich stand sie auf, um zu gehen.
»Wenn Sie jemals nach Ostafrika kommen«, sagte John, »müssen Sie mich unbedingt auf Raynor Lodge besuchen.« Er schrieb ihr seine Postadresse auf. Als sich ihre Blicke über den Zettel hinweg, den er ihr reichte, begegneten, wussten sie beide, dass, auch wenn sie einander Lebewohl sagten, ihre Geschichte noch nicht vorüber war. Sie hatte gerade erst begonnen.
Und tatsächlich – am nächsten Tag wartete John mittags vor dem Museum auf Mara. Bei einem zweiten langen Lunch erfuhr sie mehr von seinem Leben. Als er beschrieb, wie sie auf Zeltsafari gingen, erzählte sie ihm, dass sie mit den Pfadfinderinnen jahrelang jeden Sommer ins Zeltlager gefahren war. Sie sprach davon, wie frei sie sich immer gefühlt hatte, wenn sie nur durch eine Zeltleinwand von der Außenwelt getrennt gewesen war.
»Wenn es nach mir ginge«, sagte Mara, »würde ich in einem Zelt leben.«
Das war ein Scherz, aber John nickte und nahm ihre Äußerung ernst. Der Augenblick schien sie einander plötzlich nahezubringen, die Verlockung geteilter Träume verband sie mit seidenen Fäden, sanft, aber zugleich stark.
Zehn Monate später saß Mara zum ersten Mal in ihrem Leben in einem Flugzeug und flog mit der BOAC nach Nairobi. In ihrem Handgepäck befand sich ein Bündel Briefe. Das Papier war weich und abgegriffen, weil sie sie so oft gelesen hatte – vor allem den einen, in dem John Sutherland sie gebeten hatte, nach Tansania zu kommen und sie zu heiraten.
Sie hatte noch am selben Tag zurückgeschrieben – und seinen Antrag angenommen. Sie hatte nie bezweifelt, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Und John wohl auch nicht, wie sie glaubte.
Er liebte sie. Sie liebte ihn. Es war so klar, gewiss und hell wie die Sonne am Mittagshimmel. Mara schloss die Augen. Die Erinnerung an die Freude wich einem dumpfen Schmerz.
Sie griff in die Schachtel und vergrub ihre Hände in dem weißen Stoff, als ob sie wie durch einen Zauber wieder zu ihrem Hochzeitstag zurückkehren und die Reise von vorne beginnen könnte, wenn sie nur das Kleid berührte.
Sie nahm es am spitzenbesetzten Mieder und zog es heraus, schüttelte den Rock aus und hielt es ans Licht. Ein Schock durchzuckte sie.
Die Seide war mit Hunderten kleinen Löchern durchsetzt. Während sie hinschaute, lösten sich kleine Fetzchen des weißen Stoffs und fielen zu Boden. Es war doch nur das Werk von weißen Ameisen, sagte sie sich. Sie hätte das Kleid nie in einer Schachtel, die auf dem Boden stand, aufbewahren dürfen.
Außerdem war es sowieso nur ein Kleid – und sie brauchte es nie wieder zu tragen.
Es spielte keine Rolle.
Sie zwang sich, erneut an das fröhliche Bild zu denken, das sie heraufbeschworen hatte – die Freude bei der Hochzeitszeremonie. Das lebhafte Rosa der Blumen, die sie in der Hand gehalten hatte. Der sanfte
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