Roter Hibiskus: Roman (German Edition)
behandelt zu werden. Als ob sie – wie Lillian – etwas Besonderes wäre und nicht nur das mittlere von sieben Kindern, aufgewachsen in Mole Creek am Fuß der Western Tiers.
»Ich kann dort nicht sitzen«, erklärte Lillian.
Mara blickte sie überrascht an. Sie musterte den Stuhl, um zu sehen, ob er vielleicht kaputt war, aber er schien völlig in Ordnung zu sein.
Lillian lachte ein wenig. »Ich habe einfach diese Eigenart, wissen Sie – ich sitze lieber mit dem Rücken zur Wand.«
Mara spürte, wie Carlton neben ihr erstarrte. Sofort stand sie auf und bot ihr ihren Stuhl an. »Tauschen Sie mit mir.«
»Danke, Mara«, sagte Lillian und schenkte ihr ein anmutiges Lächeln. Sie hatte sich kaum hingesetzt, als sie auch schon Kefa rief und ihn um einen Drink bat. Dann wandte sie sich Peter zu und legte ihm die Hand auf den Arm. Kurz darauf plauderte sie fröhlich mit ihm und bezog auch Leonard in das Gespräch ein.
Carlton beobachtete sie einen Moment und wandte dann seine Aufmerksamkeit Mara zu. Sein Gesichtsausdruck war freundlich, aber recht ernst.
»Erzählen Sie mir doch, Mara«, sagte er, »wie sind Sie die Frau eines Jägers geworden?«
Solche Fragen stellten die Gäste Mara häufig. Für gewöhnlich erklärte sie dann kurz, dass sie und John sich zufällig in Melbourne kennengelernt hatten. Aber das wollte Carlton vermutlich nicht hören. Sie dachte daran, wie er bei seinem ersten Besuch nach dem Elefantenschädel gefragt hatte. Sie hatte wesentlich mehr dazu gesagt, als sie ursprünglich vorgehabt hatte.
»Als wir uns kennenlernten«, sagte sie zögernd, »hatte John gerade beschlossen, die professionelle Jagd aufzugeben. Er wollte kein Großwild mehr schießen. Er hatte genug davon, den Leuten dabei zu helfen, Tiere zu töten, nur damit sie ihre Köpfe oder ihre Stoßzähne als Trophäen mit nach Hause nehmen konnten.«
»So etwas habe ich schon mal gehört«, sagte Carlton. »Ich kannte einen Mann, der jede Saison am Yukon jagte. Eines Tages kam er zurück und verkaufte sein Gewehr. Er sagte: ›Ich habe das letzte Tier geschossen.‹ Und so war es auch. Er ist nie wieder auf die Jagd gegangen.«
Mara nickte. »Ja. Nun, für uns war es nicht so einfach. John dachte, die Leute würden hier vielleicht einfach nur Urlaub machen – um sich zu entspannen und das Wild zu beobachten. Aber das funktionierte nicht.«
»Und dann? Musste er wieder auf die Jagd gehen?« Carlton zog die Augenbrauen hoch.
»Ja.« Mara wusste, dass sie nicht so reden sollte. Aber es war eine Erleichterung, die Zwangslage, in der sie und John sich befunden hatten, einmal in Worte zu fassen. Und es spielte eigentlich wirklich keine Rolle, was sie Carlton erzählte – es war ja schließlich nicht dasselbe, als wenn sie Helen Vertraulichkeiten verriet. In zwei Wochen war Carlton wieder weg, und Mara würde ihn nie wiedersehen. »John hatte ein schlechtes Gefühl dabei – es fiel ihm schwer. Aber er tat es.« Sie seufzte. »Ich musste lernen, Gastgeberin bei Jagdsafaris zu sein. Dabei hatte ich viele Pflichten – ich musste nicht nur das Camp führen, sondern auch mit auf die Jagd gehen.« Sie blickte Carlton in die Augen, und auf einmal hatte sie das Gefühl, eine Beichte abzulegen. »Ich versuchte, mich an das Töten zu gewöhnen. Schließlich bin ich die Tochter eines Farmers. Antilopen oder Gazellen zum Essen zu schießen, das war in Ordnung. Aber Großwild … Mit Büffeln, Krokodilen und sogar mit Löwen kam ich noch klar, wenn ich einfach wegging, bevor die Tiere gehäutet wurden. Aber ich konnte nicht zusehen, wenn sie Elefanten schossen. Ich konnte es einfach nicht.« Sie biss sich auf die Lippe. Carlton wollte das bestimmt alles gar nicht hören, sagte sie sich. Aber sie konnte nicht mehr aufhören. »Der Boden bebt, wenn ein Elefant fällt. Es erschüttert Ihren ganzen Körper. Und Sie wissen es einfach – es ist falsch .«
»Das kann ich mir vorstellen«, erwiderte Carlton.
»Nein.« Mara schüttelte langsam den Kopf. »Das können Sie sich nicht vorstellen.« Sie blickte auf ihre Hände, mit denen sie die Tischkante umklammert hielt. Ihre Knöchel traten weiß hervor. »Und dann musste John ein Elefantenkalb erschießen. Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Ein Kunde hatte ihm nicht gehorcht und aus Versehen die Mutter erschossen. Ich weiß, dass das Kleine nicht überlebt hätte – es war richtig, es zu erschießen. Aber es war so schrecklich, meinem Mann dabei zusehen zu müssen …
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