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Roter Staub

Roter Staub

Titel: Roter Staub Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul J. McAuley
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meisten der Freien Yankees hatten ihre
Zähne Metallkronen. Durch die Körner in ihrer Diät
nutzten sich die Zähne zu hohlen Stummeln ab.
    »Wer hat dir das gesagt?«
    »Es steht in unserer Charta geschrieben, vor vielen, vielen
Generationen.«
    »Ich bin kein Gott. Ich bin bloß ein Mann. Ein
Mann!«
    »Es spielt keine Rolle, wer du bist. Es ist, was du
tust.«
    »Nein! Es ist, was ihr von mir wollt.«
    Vette lachte. »Alles, was ich von dir will, ist, daß du
mit zum Tanzen kommst!« Sie zog Lee abwärts: er ließ
es geschehen.
    Die Zeit löste sich in dem stetigen Schlagen der Trommeln
auf. Lee wußte, daß der Beat dem uhrlosen Krokodil in
seinem Hinterkopf gestattete, die Quanten-Entscheidungs-Bäume
seines Bewußtseins zu dominieren, aber es machte ihm nichts
aus. Das war der Zweck des Tanzens, die schwere Last des Selbst-Seins
zu erleichtern oder zu versenken. Aus vielen einen werden zu lassen.
Redd tanzte ebenfalls, er winkte mit dem Hut über dem Kopf und
juchzte und trat mit den Hacken. Irgendwann rieb jemand Öl auf
Lees Nacken. Vielleicht enthielt es ein Kontakt-Halluzinogen, weil
Lee bald darauf immer wieder Blicke auf Dinge erhaschte, die nicht
ganz dort waren. Oder die in einem Augenblick am einen Ort,
irgendwoanders im nächsten Augenblick waren.
    Es gab eine Art von Kolibris, die in den hohen äquatorialen
Wüsten lebte. Dieser Vogel lebte in enger Beziehung zu den
Riesen-Yuccas, die im Sommer dauerhaft blühten. Nur sein langer
Schnabel konnte den Nektar auf dem Grund der langen Blüten
erreichen, und indem er jene besondere Nahrung zu sich nahm, trug er
Pollen von einer Pflanze zur nächsten. Im Winter grub er sich
eine Höhle und ließ, wie so viele Wesen der Wüste,
seinen Körper völlig durchfrieren, aber im Sommer war er
der Geist der hohen Wüsten des Mars, schoß hierhin und
dorthin oder stand jäh unbeweglich in der Luft als ein
verwischter Fleck schlagender Flügel, dann war er verschwunden,
so daß man sich umsehen mußte, um ihn wiederzufinden.
    So war es mit der seltsamen Gestalt. Vielleicht hatte der Tanz sie
aufgeschmolzen; vielleicht die Droge. Lee konnte nur peripher einen
Blick auf sie unter den Tänzern erhaschen, als lebte sie im
blinden Fleck des Auges. Wann immer er versuchte, sie direkt
anzusehen, war sie verschwunden, ließ lediglich einen Eindruck
von etwas in Menschengestalt innerhalb eines Schattens zurück,
der vielleicht ein Mantel war, eines Gesichts, das maskiert war wie
die Gesichter der Tänzer, nur daß es so schien, als
wäre die Maske das Gesicht, oder daß es hinter der Maske
überhaupt nichts gab. Es war wie die Zuhörer, die in der
anderen Welt des öffentlichen Informationsraums ein- und
ausgingen. Vielleicht waren sie auch immer in der realen Welt
gewesen, und erst jetzt konnte Lee einen Blick auf einen von ihnen
erhaschen.
    Die anderen Tänzer sahen die Gestalt nicht. Lee befand sich
inmitten einer singenden Schlange von Tänzern, hielt die Frau
vor sich an der Taille gefaßt, und Vette umfaßte seine
Taille. Die Filtermaske auf seinem Kopf wurde zurückgeschoben.
Der schwere Rauch, der hinaus über die Bucht rollte, schien den
Staub anzufeuchten, so daß er niedersank, und es war
möglich, ohne Husten zu atmen. Was ebensogut war, weil es
unmöglich war, wenn man die Strapazen des Tanzes
berücksichtigte, mehr als fünf Minuten lang durch eine
Maske zu atmen. Sein Nacken brannte dort, wo man das Öl
hineingerieben hatte. Eine Flasche wurde die Reihe hinabgereicht,
Hand zu Mund zu Hand zu Mund zu Hand, ohne aus dem Takt zu geraten.
Lee nahm sie und kippte sie an seinem Mund und reichte sie weiter,
ehe er schluckte – es war ein feuriger Brandy, der die Zunge
betäubte und in der Kehle brannte. Etwas stand im Schatten eines
ausgeschnittenen Bogens und sah zu, während er vorbeigezogen
wurde. Es entfernte sich nicht, als er es ansah.
    Lee trat aus dem Tanz heraus. Vette folgte, und die Reihe
schloß auf und bewegte sich weiter, ein Organismus nicht ohne
ein Bewußtsein oder mit vielen Bewußtseinen, sondern mit
einem Bewußtsein, das aus vielen geformt war. Als Lee auf den
Bogen zutrat, lösten sich die Trommelschläge in einzelne
Augenblicke auf.
    Die Robe bedeckte ihren Kopf und fiel ihr über die
Füße; die Gestalt schien auf der Luft oberhalb der vom
Staub polierten Lava zu stehen. Das Material der Robe bestand nicht
aus einem einzigen Gewebe, sondern war eine vierfarbige
zerstückelte Karte winziger irregulärer Formen – keine
grenzte an eine andere

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